Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Vierter Band | |
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sie den Löwen herab, und er wanderte als Siegeszeichen nach Paris. Die Verbündeten schickten ihn wieder heim, und seit 1816 überschaut er, wie vordem, das adriatische Meer. Aus dem fürstlichen Gefangenen in der Fremde aber ist nur ein demüthiger Diener in der Heimath geworden. Der Wechsel ist nicht zu beneiden. –
Venedig rühmt sich keines so hohen Alters, als die meisten der italischen Städte; aber der Volksname der Venetianer geht in die ältesten Zeiten zurück. Damals hießen sie Heneter. Sie stammten von Trojanischen Flüchtlingen her, welche Antenor in diese Gegend führte.
Als Attila im Jahre 452 das große Aquileja zerstörte, suchte, was von den unglücklichen Einwohnern dem Schwerte entronnen, in den Sümpfen, welche das Nordende des adriatischen Meers umgürten, ein Asyl. Viele Tausende kamen um durch Noth und Elend. Der Ueberrest baute sich auf den Inselchen an der Mündung des Po an. Dieß war die erste Gründung Venedig’s. In den ersten Jahrhunderten trieben die Bewohner desselben die Fischerei als ausschließlichen Erwerb. Aus Fischern wurden allmählich Schiffer, die sich den benachbarten Orten des Festlandes als Frachtfahrer verdingten, – aus diesen Kaufleute. Der kleine Staat, von seiner Gründung an Republik, nahm zu an Macht und an Ansehen, je nachdem sich der Reichthum und die Volksmenge mehrten, welche beide der Handel herführte. Vom neunten Jahrhundert an tritt Venedig in der Weltgeschichte handelnd auf. Seine Geschwader bekämpften die Seeräuber, welche die Gestade Italiens verwüsteten; einzelne Städte und ganze Küstenstrecken begaben sich unter seinen Schutz; es schloß Bündniß mit Genua zum Kriege gegen die Sarazenen.
Als die Kreuzzüge anfingen, besorgten Genua und Venedig gemeinschaftlich die Verproviantirung und Ueberfahrt der christlichen Heere, und ihre Kriegsflotten gaben das Geleit. Mit Hülfe dieser wurden die syrischen Häfen erobert, und bei jeder Eroberung bedangen sie sich besondere Handelsvortheile aus, und eigneten sie sich die für ihre Zwecke passenden Gebäude zu. Mit den Erzeugnissen und den Bedürfnissen des Orients waren sie seit lange vertraut, und sie benutzten die günstigen Verhältnisse zur Ausbreitung ihrer Geschäfte durch ganz Asien und Afrika. Schon zu Ende des 12ten Jahrhunderts traf man venetianische Faktoreien in allen Städten des mittelländischen und schwarzen Meers an, am arabischen Meerbusen und im Golfe von Persien. Im Jahre 1202 führten sie ein Kreuzfahrerheer auf drei hundert Schiffen vor Constantinopel, und unter Anführung ihres Dogen Dandolo griff ihre Kriegsflotte von 50 großen Galeeren, mit dem französischen Geschwader vereinigt, die Hauptstadt des griechischen Kaiserreichs an und eroberte sie. Klug überließen sie die glänzende, aber gefährliche und unsichere Beute ihren Verbündeten, erwarben sich aber Candia, und behielten von Küstenländern und griechischen Inseln Alles, was ihnen für ihre Zwecke am vortheilhaftesten schien.
Eifersüchtig auf Venedig’s fortwachsende Handelsgröße hatte sich bald darauf Genua von dem geschlossenen Bunde gegen die Türken ausgeschieden und mit diesen einen Separatfrieden geschlossen, durch welchen sie sich
Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Vierter Band. Bibliographisches Institut, Hildburghausen, Amsterdam und New York 1837, Seite 80. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_Universum_4._Band_1837.djvu/86&oldid=- (Version vom 18.9.2024)