Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Vierter Band | |
|
hier mit dem Propheten wie über Tyrus ausrufen: „Ihre Kaufleute sind Fürsten!“ Daß die Ausbeute des hiesigen Handels enorm gewesen seyn müsse, geht aus dem Umstande hervor, daß, ungeachtet des Zusammenflusses aller Reichthümer der Welt, dennoch der laufende Jahreszins bei Vorschüssen auf Handelsunternehmungen, nie unter 30 Prozent, oft über 50 war. Welcher Gewinn mußte also bei Spekulationen locken, für welche das Geld nicht wohlfeiler erlangt werden konnte!
Vom Gipfel des Glücks und der Größe war der nächste Schritt der erste zum Verderben. Als Genua schwach geworden und Venedig keinen Nebenbuhler mehr zu fürchten hatte, folglich die Nothwendigkeit aufhörte, für die Erhaltung seiner Macht mit Anstrengung zu kämpfen, wendete sich die Ehr- und Herrschsucht der reichen Geschlechter nach innen, und die Regierung, mithin auch die Sorge und das Interesse für das Staatswohl, wurde zum ausschließlichen Monopol der ältesten und vermögendsten Familien. Diese traten, um sich den Besitz der Alleinherrschaft zu sichern, in einen enggeschlossenen Verein zusammen, und die demokratische Regierungsform ging in eine streng aristokratische über. Für Verstand und Einsicht war nur noch in so fern Belohnung vorhanden, als zugleich Geburtsrang damit verknüpft war. Spätere Ausartung stellte auch diesen letzten dem Golde zu Kauf. Für 100,000 Ducaten konnte jeder Tropf sich den Rang eines Nobili erwerben, und seinen Namen in’s goldene Buch eintragen lassen. Titel wurden, wie jede andere Waare, nach dem Preiscourant des Senats erworben, die Verbrecher erkauften sich die Freiheit nach dem Tarif, Alles war feil; das persönliche Verdienst, als bloßes Verdienst, war dagegen außer Cours. An seine Stelle trat die Würde, und Geburt, Titel und Amt gaben diese allein. Die Aufrechterhaltung alter Formen ist für solche Verwalter des Gemeinwesens am leichtesten zu begreifen und mit der wenigsten Mühe auszuführen; das Neue zu prüfen und das Gute davon zu behalten, paßt nie für solche Wesen; das Erhabene zu ergründen und zu erkennen, war niemals für die Anbeter des goldenen Kalbes. So war es möglich, daß, als ein armer, aber tiefdenkender Mann Pläne und Wahrheiten offenbarte, die Venedig mehr, als die ganze übrige Welt interessirten, man sie dort als Tollheiten verlachte. Man ahnete nicht, daß durch deren Erfolg die ganze Herrlichkeit Venedig’s in den Staub sinken würde.
Jener Mann war Columbus; – dieser Erfolg die Entdeckung Amerika’s. Die Umschiffung Afrika’s durch Vasco di Gama, ein paar Jahre später, welche dem Handel mit Indien neue Wege wieß, vollendete, was jene Entdeckung der andern Erdhälfte für Venedig’s Ruin vorbereitet hatte.
Die weitere Geschichte der Republik ist blos die ihres Verfalls. Aber drei Jahrhunderte gehörten dazu, ehe der von der Kraft dreier Welttheile vollgesogene Staatskörper sich so abzehrte, daß ihn der Stoß eines starken Arms niederwerfen konnte.
Venedig empfing die Nachrichten jener Entdeckungen, welche über seine Zukunft den Stab brachen, mit Schrecken und Entsetzen, um so mehr, da es nun zu spät war, etwas zu thun, um das Uebel abzuwenden. Möglich
Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Vierter Band. Bibliographisches Institut, Hildburghausen, Amsterdam und New York 1837, Seite 82. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_Universum_4._Band_1837.djvu/88&oldid=- (Version vom 18.9.2024)