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Seite:Meyers Universum 5. Band 1838.djvu/11

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CLXXXIX. Der Dom zu Burgos.




Der rohe Mensch ist der Sklave der Natur; der Künstler macht sie sich unterthan. Indem er ihr blos Objektivität einräumt, behauptet er ihr gegenüber, als Erscheinung, seine Selbstständigkeit, als Macht seine Würde, und mit edler Freiheit richtet er sich auf gegen seinen Gott. Die Gespensterlarve nimmt er ihm ab, welche den rohen Menschen ängstigt. Die finstere Höhle, welche der Indianer einem Gott-Ungeheuer gräbt, das mit der Stärke und dem Schrecken des Raubthiers die Welt verwaltet: in schöne Contouren zieht sie sich zusammen vor der griechischen Phantasie, und vor der christlichen Kunst verklärt sie sich zum Höchsten der Form, zum Symbole des Unendlichen und Unkörperlichen.

Es gibt keine erhabneren Aeußerungen der Herrschaft des menschlichen Geistes über die Materie, als die Wunder der gothisch-christlichen Baukunst. Alles an derselben hat eine symbolische, hieroglyphische Beredtsamkeit und Bedeutung. Hoch ragen die schlanken Säulenbüschel auf, immer mehre sich fest aneinander schmiegend, gleich den Säulen der heiligen Haine; und wie der Dom zum Himmel hinstrebt – in’s All, in das Unendliche, so soll der Geist des Menschen im Dome zum Allmächtigen sich erheben und durch Gebet und Betrachtung die Weihe zum höhern Leben empfangen. Keine Verzierung, weder eine innere, noch äußere, ist zufälliger Schmuck. Bis auf das Monstranzhäuschen, welches, von kostbarem Metall, den Tempel im Kleinen wiederholt, ist alles religiöse Bildersprache – Alles Heiligthum.

Betrachte diese Kathedrale. Sie ist der Triumph der christlichen Kunst, und schon der Blick auf das kleine Bild erfüllt dich mit Bewunderung und Ehrfurcht; fordert dich auf, dein Gemüth zu sammeln aus der Zerstreuung des Irdischen, und dich zu bereiten zu Gebet und Andacht. Sie ist wahrhaftig ein Haus des Allerhöchsten.

Empfohlene Zitierweise:
Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Fünfter Band. Bibliographisches Institut, Hildburghausen, Amsterdam, Paris, Philadelphia 1838, Seite 3. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_Universum_5._Band_1838.djvu/11&oldid=- (Version vom 24.8.2024)