Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Fünfter Band | |
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Wer seinen Abscheu vor dem Despotismus aller Art und Form jederzeit bekannte, den Kampf mit demselben nie aufgegeben hat, und sich der Unfähigkeit bewußt ist, jemals in seiner Ueberzeugung zu wanken, wird nie zaudern, gerecht zu seyn, aus Furcht, mißverstanden zu werden. Unbedenklich lege ich das offene Bekenntniß ab, daß ich mit Achtung ein Volk betrachte, dem Religion, Kaiser, Vaterland, und historische Erinnerung Perlen auf dem Hausaltare sind, seine Stammgüter, sein Nationalheiligthum. Diesen Gütern, für deren Erhaltung es so heiß gekämpft, ist in gleichem Maße seine Liebe zugewendet; es hat sie mit allen ihren Kräften in’s Herz geschlossen. Es hängt mit Stolz an ihrer Vergangenheit, mit Treue an ihrer Gegenwart; und im ruhigen Genusse ihrer Früchte fühlt es sich wohl und glücklich. So sehen wir Oesterreichs Volksleben wie ein Familienleben sich entwickeln, gedeihen in ruhiger Häuslichkeit und durch ein stilles, genußreiches Vegetiren im Sonnenscheine langer Friedenszeit, allen Störungen der unruhigen, geistigen Triebe, allen Tumulten der Partheiungen und aller Härte der absoluten Gewalt entzogen. Im Besitze eines gesegneten Bodens, wächst ihm sein ganzer Bedarf und alle Formen seines Bestandes gewissermaßen von selbst, von innen zu. Aeußere Veranlassung fehlt Oesterreich ganz, neue Formen auszusinnen und sie, wie Pfropfreiser, seinem Lebensbaume aufzusetzen, damit der Säfte Trieb aufzufangen und an edleren Aesten edlere Früchte zu erzielen. – „Ich befinde mich wohl und zufrieden,“ sagt der Oesterreicher; „warum sollte ich es anders machen wollen, und anders wünschen?“
Welcher meiner Leser weiß die rechte Antwort? welcher wagt sie auszusprechen?
Die örtliche Beschreibung Wiens wird zweckmäßiger eine allgemeine Ansicht der Residenz begleiten, welche in diesem Werke später erscheint. – Ueber die Donau, welche sich bei Nußdorf, eine Stunde von Wien, in mehre Arme theilt, von welchen der Hauptarm der Stadt in halbstündiger Entfernung vorüberströmt, ein kleinerer aber die Metropole fast mitten durchfließt, führen mehre schöne, größtentheils neu entstandene Brücken. Bei weitem die prächtigste ist die Ferdinandsbrücke, ein Meisterstück der Wasserbaukunst, 1819 aus weiß-grauen Quadern errichtet. Sie ruht auf Rosten mit Landjochen und einem gewaltigen Mittelpfeiler, dessen Massivität mit der Leichtigkeit und Kühnheit der Bogenspannung auf das Angenehmste contrastirt. Diese Brücke unterhält die Kommunikation der sogenannten Leopoldstadt mit der Altstadt. Ihr Bau kostete 2 Jahre und mehr als eine halbe Million Gulden.
Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Fünfter Band. Bibliographisches Institut, Hildburghausen, Amsterdam, Paris, Philadelphia 1838, Seite 179. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_Universum_5._Band_1838.djvu/187&oldid=- (Version vom 29.10.2024)