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Seite:Meyers Universum 5. Band 1838.djvu/77

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CCIII. Djerasch (das alte Gerasa) in Syrien.




In allen Uebergängen scheint, wie in einem Zwischenreiche, eine höhere, geistige Macht durchbrechen zu wollen; und wie auf unserm Wohnplatze die an unterirdischen Schätzen reichsten Gegenden in der Mitte zwischen den wilden, unwirthlichen Urgebirgen und den unermeßlichen Ebenen liegen, so hat sich auch zwischen den rohen Zeiten der Urgeschichte und der Alles wissen wollenden, flachen, luxuriösen Gegenwart die griechische Zeit niedergelassen, welche unter einfachem Kleide die edelsten und bedeutungsvollsten Gestalten verbirgt. Wer geht nicht lieber im Zwielichte, wenn er die Wahl hat, entweder in finsterer Nacht, oder in heißem, grellem, hellem Sonnenschein zu wandeln? Darum vertiefen wir uns auch so gern in jene Zeiten, über welche das griechische Leben einen magischen Schein geworfen hat, einen Schimmer, der noch wohlthätig im Spiegel der Gegenwart reflektirt.

Die Erscheinungen des griechischen Lebens bleiben sich in ihren Grundzügen überall gleich. Die Lust an der Freiheit, der Sinn für die Freuden eines geselligen, ja üppigen Lebens, und ein eingeborner Schönheitssinn, durch den sich der Grieche für Alles in und außer sich Ideale schuf, die ihm zum Maßstabe dienten für jedes Erzeugniß der Kunst und Poesie, wurden die gemeinschaftliche Quelle jener Liebe zu großen Handlungen und Unternehmungen, wovon die Geschichte so unzählige Beispiele giebt, und jener Werke, welche uns, obschon nur noch in Trümmern erkenntlich, zugleich mit Erstaunen und Bewunderung anfüllen. In der griechischen Kunst herrscht überall Verkörperung des Begriffs der höchsten Schönheit, ein Begriff, an den die Gegenwart nur ahnend hinanreicht. Ungleich den neuern, welche blos die äußern Sinne mit angenehmen Empfindungen erfüllen, erfüllt der griechische Künstler das inwendige Heiligthum des Gemüths mit wunderbaren Vorstellungen und Gedanken. Durch seine Werke weiß er in uns geheime, vorher uns unbekannte Kräfte zu erregen; sie sprechen uns an, wie eine Hieroglyphenschrift höherer Art. Wir vermeinen Worte aus einer bessern, schönern Welt zu vernehmen. In ihre Betrachtung verloren, fühlen wir uns der bekannten Gegenwart entrückt; alte und zukünftige Zeiten steigen herauf, Menschen, Gegenden, Begebenheiten, Vorstellungen, wie sie kein Wortrahm fassen mag; wir lesen eine uns vorher unbekannt gewesene Sprache, und dennoch verstehen wir sie vollkommen; unsere Seele ist berauscht von Ehrfurcht, und trunken von Entzücken. –

Empfohlene Zitierweise:
Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Fünfter Band. Bibliographisches Institut, Hildburghausen, Amsterdam, Paris, Philadelphia 1838, Seite 69. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_Universum_5._Band_1838.djvu/77&oldid=- (Version vom 25.8.2024)