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Seite:Meyers Universum 6. Band 1839.djvu/102

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für ihre Fabrikate gefunden hatten. Nürnberg hatte von jeher das größte Geschäft damit gemacht; es konnte nicht fehlen, daß sich viele der Auswanderer dahin wendeten. Mehre ließen sich auch am Thüringer Walde nieder. So hat sich die Verfertigung jener Spielwaaren in das Herz von Deutschland verpflanzt, eine Industrie, welche eine kaum glaubliche Ausdehnung erlangt hat, und die allein auf dem Thüringer Walde gegenwärtig über 10,000 Menschen ernährt.

Die schönste Ausstattung des Berchtesgadner Thals ist sein See, der, smaragdgrün, zwischen hohen Bergen hinzieht und ein paar Inselchen einschließt, die mit Gebüsch und Bäumen anmuthig bepflanzt sind. Auf dem einen steht eine Kapelle und die marmorne Bildsäule des heil. Johannes; beide an die Zeiten der geistlichen Herrschaft erinnernd. Die Tiefe des Sees ist ungemein groß; an mehren Stellen über 700 Fuß.

Eine Fahrt auf dem See bei heiterm Himmel ist sehr genußreich. Am rechten Ufer steigt die ungeheure Masse des Watzmann schroff in die Wolken; links treten die Bergrücken in den Hintergrund zurück und saftige, immergrüne Matten breiten sich aus, mit Sennhütten überstreut und weidenden Heerden bedeckt, deren melodisches Geläute uns auf der ganzen Fahrt festlich begleitet. Gewöhnlich hält der Nachen (die Ruderer sind fast immer, wie auf den Schweizer Seen, junge Mädchen!) bei dem Bartholomäus-Inselchen an, wo das Jagdschlößchen des bayerischen Königs besehen wird; und während man im nahe gelegenen Gasthofe ein Mahl aus den köstlichen Fischen des Sees (Salmlinge genannt) bereitet, geleitet ein Kreiser zwischen den Schluchten des Watzmann hinan zu der Eiskapelle, einem Gletscher, dem tiefsten in den ganzen Alpen. Er bildet ein domartiges Eisgewölbe in einer finstern Gebirgsschlucht, in welche niemals ein Sonnenstrahl dringt. Zur Sommerzeit thaut das Eis im Innern in einem beständigen Regen nieder. Die Kälte ist erstarrend und für Personen, die gegen den Wechsel der Temperatur empfindlich sind, gefährlich. Diese Eiskapelle ist die Herzenskammer des alten Watzmann, und aus naher, schon gefaßter Oeffnung rieseln reichliche Quellen des köstlichsten Wassers hervor, welche sich in der Schlucht zu einem schon bedeutenden Wildbach vereinigen.

Um den Watzmann zu besteigen, braucht man einen vollen Tag. Die größte Höhe seines zweizackigen Gipfels ist 9100 Fuß über der Meeresfläche. Man übersieht auf demselben den ganzen östlichen Theil der Alpen bis zum Oertler. Für das Studium der Alpennatur liegt Berchtesgaden sehr günstig, was Alexander von Humboldt erkannte, der sich ein ganzes Jahr hier aufhielt, ehe er seine berühmte Forschungsreise nach den Alpen der Tropenländer Amerika’s unternahm.

Wenn es wahr ist, daß die Alpenlandschaften bei Jedem, der sie einmal gesehen hat, immer ein geheimes, sehnsüchtiges Verlangen zur Rückkehr, zum Wiedersehen zurücklassen, so gilt dieß gewiß von Berchtesgadens stillen Thälern. Man trennt sich von dieser Landschaft nur mit schwerem Herzen, und denkt zurück, wie an ein Eden, für dessen Verlust die Reize gepriesenerer Gegenden auch den Vielgereisten nicht entschädigen können.



Empfohlene Zitierweise:
Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Sechster Band. Bibliographisches Institut, Hildburghausen, Amsterdam, Paris, Philadelphia 1839, Seite 94. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_Universum_6._Band_1839.djvu/102&oldid=- (Version vom 4.10.2024)