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Seite:Meyers Universum 6. Band 1839.djvu/182

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CCLXXIII. Baden bei Wien.




Unter den ausgezeichnetsten Punkten der reizenden Umgebungen der österreichischen Kaiserstadt nimmt Baden die erste Stelle ein. Gleich außerhalb der Barriere steigt die Chaussee den Wienerberg hinan, von dessem Gipfel ein Monument uralter deutscher Kunst, – eine Säule mit der Figur des Gekreuzigten, – (seltsam nennt sie das Volk die Spinnerin am Kreuze), einsam in die Lüfte ragt. Hier erfreut der prachtvollste Rückblick auf die Residenz. Eine kurze Stunde führt über Jägersdorf und an der sagenreichen Teufelsmühle vorbei nach Neudorf, dessen Schlößchen aus schönen Anlagen gar freundlich herausschaut. Schornsteine, die, wie die Thürme, aus großen Gebäuden hervorragen, lassen irgend eine großartige metallurgische Industrie vermuthen; man erstaunt, wenn man hört, daß sie alle einer Bierbrauerei angehören, der bedeutendsten und besten in ganz Oesterreich. Außerhalb Neudorf lenkt die Straße in westlicher Richtung ab; erst an Weinbergen hin, dann, über Gundramsdorf und Pfaffstädtchen, eine Anhöhe hinan und da erspäht das forschende Auge das Ziel, das schöne Baden, malerisch am Eingange eines tiefen Thals (des Helenenthals) gelegen, und an drei Seiten von grotesk geformten Felswänden umschlossen.

Baden ist nicht blos seiner Heilquellen wegen berühmt, sondern auch als eine der Sommerstationen der österreichischen Aristokratie und der guten Gesellschaft der Hauptstadt. Während die meisten übrigen deutschen Bäder mit den immer häufiger einkehrenden Flüchtlingen Albion’s brittische Sitten angenommen haben, ist doch Baden ganz österreichisch geblieben. Es gibt da keine Londoner Routs, Westendstutzer, Schneider, Sprachlehrer, Tanzmeister zu Dutzenden, oder englische Familien, die, wie bei der westlichen Namensschwester, zu Hunderten feste Wohnsitze aufschlagen, Priester und Pensionate nähren, Pferderennen halten, Wettspiele treiben aller Art und der ganzen Gesellschaft den Typus einer englischen Colonie aufdrücken. Fehlt es auch an englischen Besuchern nicht, so ist doch ihr Einfluß auf Ton und Sitte viel zu unbedeutend, um den österreichischen Charakter in beiden zu schwächen.

Empfohlene Zitierweise:
Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Sechster Band. Bibliographisches Institut, Hildburghausen, Amsterdam, Paris, Philadelphia 1839, Seite 174. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_Universum_6._Band_1839.djvu/182&oldid=- (Version vom 7.10.2024)