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Seite:Meyers Universum 6. Band 1839.djvu/218

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unentgeltlich ausgegeben werden, streuen die Saat europäischen Wissens und Denkens in der Form anziehender Unterhaltung aus, und die vielen Institute für höhere wissenschaftliche Fortbildung der Hindus werden, seitdem die dem befähigten Eingebornen früher verschlossen gewesenen Thüren zu Amt und Würde, sowohl in der Civil- als Militairverwaltung, geöffnet sind, wetteifernd benutzt. – Im Innern des Landes sieht man nur erst die Zeichen brittischer Herrschaft. Dort trägt der Indier noch den Stempel seiner primitiven Originalität, so scharf, als vor 3000 und 4000 Jahren. Seine theokratische Verfassung ist dort noch ein unbesiegtes Bollwerk; sie schützt ihn vor jeder Veränderung, ein unabänderlich strenges Kastensystem weist Jedem seine Stellung an, die er nicht überschreiten kann; fremd steht ihm der europäische Herr gegenüber, und wollte er aus der ihm vom Geschick angewiesenen Schranke treten, würde er sich vernichten. – In Calcutta ist dieß anders. Da ist er täglichen Angriffen der europäischen Gesittung preisgegeben. Er legt seine Vorurtheile ab; nicht auf einmal, sondern in unmerklichen Graden, und Gewohnheit und Vortheil wirken das Uebrige. Der Sohn sieht schon im Vater keinen ächten Indier mehr, und der Enkel wird’s noch weniger thun. Der im Innern zur Zeit noch allgewaltige Arm der Brahminen ist in der Hauptstadt gebrochen. Viele vornehme Indier haben sich bereits öffentlich europäisirt, und es lehren indische Philosophen sogar, der Exkommunikations-Sprüche der Priester lachend, in öffentlichen Schulen die Erkenntniß des Unsinns des brahminischen Glaubens. Einer der reichsten Männer in Indien, Tagore in Calcutta, brahminischer Kaste, gibt Bälle, Soirees und Diners in seinem Pallaste, die an Glanz und Raffinement mit denen des Gouverneurs wetteifern; und mit Ueberraschung sieht der geladene Europäer bei solchen Gelegenheiten eine Versammlung von Indiern, die über Gegenstände der Politik, der Wissenschaft und der Philosophie sich mit einer Freiheit, Gewandtheit und einem gesunden Urtheil unterhalten, welches jeder europäischen Gesellschaft zur Ehre gereichen würde. Diejenigen indischen Vornehmen aber, welche sich durch strenge Abgeschlossenheit von dem europäischen Einfluß frei zu halten suchen, sind eine indolente, degradirte, verweichlichte Race, die den Mangel an Macht und Ansehen mit puppenhaftem Gepränge und pomphaften Kinderspielen zu verschleiern sucht. – Solchergestalt wirkt England ungehindert dem Zwecke zu, daß aus der bessern indischen Bevölkerung Calcutta’s nach und nach ein fester, gesunder Kern der Bildung sich gestalte, der, emporgewachsen zum Baume, einst seine Zweige über ganz Indien breite und zum Heile der Civilisation die Stelle einnehme roher, muselmännischer Unwissenheit und des Alles in sinnloser Stupidität fesselnden Brahmahnismus.

Als Handelsplatz gebührt Calcutta der erste Rang in ganz Asien. Es ist das große Emporium nicht nur vom Verkehr des Mutterlandes mit seinem indischen Reiche, sondern auch für beider Handel mit andern Ländern des Welttheils. Auch für Australien und die afrikanischen Colonien ist’s eine Niederlage zur Ein- und Ausfuhr. Unermeßlich ist der innere Handel vermöge des Ganges und seiner großen, eine schiffbare Länge von 1500 englischen Meilen habenden Nebenströme. Die Entdeckung der Dampfschifffahrt hat die Communikationsmittel erweitert und 41

Empfohlene Zitierweise:
Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Sechster Band. Bibliographisches Institut, Hildburghausen, Amsterdam, Paris, Philadelphia 1839, Seite 210. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_Universum_6._Band_1839.djvu/218&oldid=- (Version vom 8.10.2024)