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Seite:Meyers Universum 7. Band 1840.djvu/57

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CCLXXXXI u. CCLXXXXII. Kiew und seine heiligen Stätten.




Was für Griechenland Athen und seine Akropolis gewesen, was für das römische Weltreich die alte Roma war und das Capitol, und was für die abendländische Christenheit das neue Rom ist, daß sind für Rußlands Reich und Kirche Moskau und Kiew. Hier wie dort schlugen die zwei Hauptgewalten des staatlichen Lebens ihren Sitz auf: die politische und die geistliche. Was die Kaiser und Auguren in der alten, die Päbste in der neuen Roma, Könige und Volk in Athen bauten und formten, errichteten und bildeten die Großfürsten, Czaare und Patriarchen im Kreml und auf den Höhen von Kiew. Beide Städte bewahren die heiligsten und theuersten Besitzthümer des russischen Volks, die ehrwürdigsten Symbole seiner Nationalität, die belehrendsten Denkmäler seiner Geschichte: vorzugsweise Moskau für die spätern Zeiträume, Kiew für die frühern und ältesten.

Beneidenswerth ist Kiew’s Lage im Herzen des eigentlichen Rußlands, in der Mitte der fruchtbarsten und gesegnetsten Provinzen eines jetzt unermeßlichen Reichs. Seine Mauern umspült der schiffbare Dniepr; grasreiche Thalgründe, fette Fluren umfassen es, köstliche Rebengelände decken anmuthig die Höhen; in weiterer Entfernung aber umgibt es ein breiter Waldgürtel, aus dem Hauptquellen des Erwerbs fließen.

„Beim Austritt aus dem Dunkel des Gehölzes,“ so beschreibt ein Reisender, „entdeckten wir über einer grauen Nebelschicht Kiew. Die heilige Stadt stand wie in der Luft, oder am Himmel, und die Strahlen der aufgehenden Sonne, die auf den goldbedeckten Spitzen seiner Tempel flammten, boten ein prachtvolles und seltenes Schauspiel dar! Der Weg führt durch den Wald in tiefem Sande; zur Seite wanderten lange Züge von Pilgern und Pilgerinnen, in Andacht versunken. Gläubige Frömmigkeit und Gottesfurcht sind noch mächtig unter den russischen Völkern. Ein Jahrtausend ist verflossen, seit das Licht der Offenbarung sich von Kiew aus über Rußland verbreitete und trotz der babylonischen Gefangenschaft unter Batu Chan und der Verwüstungen und langen Herrschaft der Polen hat das Volk sein Jerusalem doch nicht vergessen. Besonders ist die Verehrung Kiew’s unter dem weiblichen Theil der Bevölkerung groß, und viele tausend russische Frauen thun das Gelübde, jährlich einmal die heiligen Gebeine in Kiew zu besuchen und erfüllen es, – freilich oft mit Aufopferung auch heiliger Pflichten als Mütter und Hausfrauen, – pünktlich bis zum Ende ihres Lebens. Solche Pilgerfahrten dauern, wenn sie, was häufig der Fall

Empfohlene Zitierweise:
Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Siebenter Band. Bibliographisches Institut, Hildburghausen, Amsterdam, Paris, Philadelphia 1840, Seite 49. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_Universum_7._Band_1840.djvu/57&oldid=- (Version vom 26.10.2024)