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Seite:Meyers Universum 7. Band 1840.djvu/59

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vielen frommen Gaben sah sich der Klausner im Stande, seine kleine Einsiedelei in ein Kloster zu verwandeln. Anfänglich bestand die Brüderschaft aus nur 4 Personen, dann sammelten sich 12 Brüder, und mit ihnen und tausenden von freiwilligen Händen grub Anton die große Höhle zur Kirche und andere zu Zellen, Vorrathskammern und Wohnungen aus. 56 Jahre lang kam Anton nicht an das Tageslicht und eben so treu hielten die übrigen Brüder ihr Gelübde, in den Höhlen zu leben und zu sterben. Als endlich die unterirdischen Räume die immer häufiger herzuströmenden Pilger nicht länger mehr fassen konnten, bauten die Mönche, mit Unterstützung der Gläubigen und des Großfürsten Isgaslaw, der ihnen den ganzen Berg bis an die Stadtmauer schenkte, eine Kirche auf der Höhe und Zellen für 100 Brüder. Baumeister dazu wurden aus Constantinopel gerufen und die Kirche zu Mariä-Himmelfahrt genannt. Der griechische Patriarch schickte die Gebeine von sieben Heiligen; und in das Fundament der Kirche setzte man sie ein in silbernen Särgen. Andere Reliquien und ein wunderthätiges Marienbild wurden in der Kirche selbst aufgestellt. Der Ruf dieser Heiligthümer verbreitete sich bald über die ganze Christenheit; sogar von Constantinopel und Cairo kamen Pilgerschaaren. Die Zahl der Mönche stieg auf 200, und der Klosterschatz auf viele Millionen. Die fortwachsende Vermehrung der Brüder gab zum Bau noch anderer Klöster Anlaß, und am Ende des 11. Jahrh. waren ihrer 12 mit 750 Mönchen vorhanden. Aber 1096 fielen die damals noch heidnischen Polen in’s Reich, plünderten Kiew, zerstörten die Klöster, vertrieben die Mönche und raubten die nur theilweise geretteten Schätze. Kaum wieder aufgebaut erlitten sie 1169 neue Verheerung, und i. J. 1240 stürmten die Mongolen herein, legten alle Städte und Dörfer des Landes in Asche, und die in dem Höhlenkloster Schutz suchenden Einwohner Kiew’s wurden an den Altären niedergehauen. Der Chan der Mongolen, Batu, ließ, nachdem er geraubt hatte, was er finden konnte, die Gebäude in Brand stecken und führte die übrige Bevölkerung gefangen mit sich fort. 200 Jahre lang blieb hierauf die heilige Stätte verödet. Erst i. J. 1470 stellte ein litthauischer Herzog die unterirdischen Verehrungsplätze wieder her; später erhoben sich auch die Kirchen und Gebäude aus dem Schutte, bis in einer stürmischen Nacht, vom 21–22. August 1718, eine Feuersbrunst alle Gebäude des Bergs, damit auch die Marienkirche, sammt Archiven, Bibliotheken etc. etc. verheerte. Ihr letzter Wiederhersteller war Peter der Große.

Die neue Maria-Himmelfahrtskirche ist eines der schönsten kirchlichen Gebäude Rußlands und ihr prächtiger Glockenthurm, 340 Fuß hoch, ein Meisterstück der Architektur. In seinem Aeußern gleicht jener Tempel der Kathedrale des Kreml; er ist, wie diese, mit sieben kugelförmigen goldenen Kuppeln, wie mit einem Kranze geziert, eine Bauart, die weder byzantinisch, noch weniger gothisch ist und den eigentlichen russischen Kirchenstyl ausmacht.

Merkwürdig ist, daß die vielen Reliquien dieser Kirche durch alle Wandlung der Zeit, der Raubsucht und Zerstörung sich unversehrt erhalten haben, und das gläubige Volk fest in die Wahrheit der Legenden und Geschichten

Empfohlene Zitierweise:
Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Siebenter Band. Bibliographisches Institut, Hildburghausen, Amsterdam, Paris, Philadelphia 1840, Seite 51. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_Universum_7._Band_1840.djvu/59&oldid=- (Version vom 26.10.2024)