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Seite:Meyers Universum 8. Band 1841.djvu/129

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CCCLIV. Astrachan.




„Wie seine Ahnfrau, die scythische Schlangenjungfrau im Hyläerlande, die dem Herkules die Rosse entführte und mit der er dann in der Bergeshöhle die Stammväter des Volkes erzeugte: so vereinigt das russische Reich in sich zwei Naturen. Seines Schlangenleibe eine Hälfte dehnt sich weit über den Norden Asiens bis nach Amerika hinüber, wohl zwanzig Nationen in ihren Ringen fassend, alle verschieden in Sprache, Religion, Sitten und Gesinnung; am Gürtel des Urals aber ist dem Ungethüm die Europäische Hälfte aufgesetzt, die sich fortzieht gegen den Mund der Donau und die Karpathen bis an der Oder Gebiet.

Erst diese Hälfte des Drachen ist ausgebildet; die Asiatische Hälfte erscheint noch fötusartig; noch gleichsam befangen in der Völkerscheide, dem Schooße der Natur erst halb entwunden. Doch wächst und reift und zeitigt es fortwährend an dem Riesen, und indem er immer neue Barbarenstämme unter die wachsenden Ringe aufnimmt und sich aneignet, wirft er im Reiche der Cultur beständig, und führt der Gesittung, trotz der eigenen Rohheit, immer neuen Stoff zur Veredlung herbei.“ –

Südwärts von dem eigentlichen Rußland liegt jenes offene, beinahe ganz ebene, Steppenland, durch welches der größte Strom des Welttheils, die Wolga, wie ein wogendes Meer sich dem Kaspischen Meere zuwälzt. Viele Jahrhunderte hat es den Völkermassen, die sich von der Mongolischen Hochebene in den europäischen West gewälzt, zum Durchzug gedient, deren Nachzügler in unstät umherschweifenden Horden dort noch immer zu finden sind. Die Tartaren stifteten im Mittelalter an der Unterwolga ein Reich – und Astrachan war dessen Hauptstadt. Tartaren und Russen, Mongolen und Slaven kriegten viele Jahre lang um die Oberherrschaft. Die letztern waren lange zinspflichtig den erstern. Endlich kehrte sich das Verhältniß um; die Unterdrückten wurden die Unterdrücker und der ehemalige Vasall, von der Macht unterstützt, welche größere Gesittung giebt, vertrieb die tartarischen Chane aus ihren Reichen. Astrachan ist seitdem Hauptstadt eines russischen Gouvernements. Wenn es dadurch auch im Range herabgestiegen ist, so hat es doch dabei nicht verloren: denn es zählt jetzt beinahe 5000 Häuser und über 50,000 Einwohner, und ist an Bevölkerung, Reichthum und Verkehr die fünfte Stadt des größten Reichs. Nur Petersburg, Moskau, Odessa und Riga sind noch bedeutender.

Empfohlene Zitierweise:
Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Achter Band. Bibliographisches Institut, Hildburghausen, Amsterdam, Paris, Philadelphia 1841, Seite 121. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_Universum_8._Band_1841.djvu/129&oldid=- (Version vom 6.12.2024)