Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Achter Band | |
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Im Herzen der Schweiz, von bewaldeten Gebirgen umfangen, liegt der Vierwaldstädter-See. Fünf Meilen streckt er sich aus, von Altdorf bis nach Luzern; die kürzern Arme seines Kreuzes, von Küsnacht bis bei Stanz, sind vier Stunden aus einander. Er ist schmal, oft nur eine viertel, selten eine halbe Stunde breit. Dieser See weicht keinem der Alpenbecken an Mannichfaltigkeit der Schönheiten, und jede Jahreszeit schmückt seine Landschaften mit neuen Reizen. Am nördlichen Ende, wo ihm die Reuß entströmt, herrscht das Malerische, Anmuthige vor. Niedrige Hügel mit Rebengeländen, Gruppen von Bäumen und einzelne Felsparthieen bilden hier gleichsam die Propyläen zu der schauerlichen Pracht der Alpenwelt, welche die Fahrt auf dem See dem Reisenden enthüllt; – denn bald steigen die Ufer empor, die einzelnen Felsgruppen rücken zu senkrechten Feldwänden an einander, die Wohnungen der Menschen finden keinen Raum mehr, sie werden seltner und hören endlich auf. Schroff richten sich zur Rechten und Linken die Hochgebirge gen Himmel mit ihren Waldgürteln und ihren Felsenscheiteln. Kleine Gewölke spielen fast immer um ihre Brust. Da oben ruhen stille Matten und Sennhütten, und zuweilen mischt sich in das feierliche Rauschen des Sees das Geklingel einer Viehheerde, oder das Horn des muntern Hirten. Höher und immer höher werden dann die Felsmauern der Ufer; oft überhängend, oft ihre Zinnen gegen einander neigend, als wollten sie zusammen stoßen. Streckenweise sind die geschlossenen Wände völlig kahl; kein Strauch kann da Wurzeln schlagen und nicht ein Grashalm kann eine Kluft finden, in die er sich festklammere. Felsgipfel recken sich auf, die niemals ein menschlicher Fuß erstiegen hat; Horststätten sind’s der Adler und Geier, und nichts Lebendiges, außer ihnen, ist in der Höhe; nichts Reges auch, als der Staubbach, der über dem Abgrund herüber taumelt; nichts Lautes auch in der Tiefe, als Wogen- und Ruderschlag, oder das Geheul des Föhns, das den Schiffer schreckt. Ueber eine Stunde lang sieht man nicht eine menschliche Wohnung. Dann erscheint die erste wieder als Fischerhütte auf einem bematteten Vorsprung, und auf den Felsen in der Höhe die ersten Thiere, Ziegen, welche die sprossenden Kräuter suchen. Dann und wann sieht man wohl auch einen Wildheuer klimmen, der, an den Ellenbogen und Knien mit eisernen Hacken bewaffnet und mit einem Netz um seine Lenden gebunden, von Fels zu Fels zu kommen trachtet und um einen Arm voll Gras das Leben wagt. Auch die Quellen werden häufiger und in weißschäumenden Caskaden stürzen sie sich in die dunkelgrüne Fluth.
Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Achter Band. Bibliographisches Institut, Hildburghausen, Amsterdam, Paris, Philadelphia 1841, Seite 155. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_Universum_8._Band_1841.djvu/163&oldid=- (Version vom 8.12.2024)