Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Achter Band | |
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Matten die Wände des Gebirgs bekleidet: – so wechselvoll sind auch die Gestaltungen der anorganischen Natur. Die Grundtypen derselben sind zwar nicht zahlreich, aber in ihrer Zusammensetzung entwickeln sie einen Reichthum der Formen, der an das Unendliche gränzt. Jede Lokalität des Gebirgs hat ihr eigenthümliches Gesicht, und jedes Gesicht seine eigenthümliche Schönheit. –
In den Thälern der Alpen sind die interessantesten Naturscenen an einander gereiht, wie die Perlen zur Schnur. Nicht nur in jenen berühmten, die das Große mit dem Reizenden vereinigen, und wo Natur und Kunst sich die Hände gereicht haben, um entzückende Bilder zu schaffen; wie z. B. im Thale der Etsch und in dem wie ein Garten angebauten, dreißig Meilen langen Thale des Inns; auch viele kleinere sind nicht minder reich ausgestattet, und oft haben diese für den Naturfreund noch den Vorzug, daß er da in engem Raum nahe bei einander findet, was dort weit aus einander liegt. Die Stille, den Reiz der Einsamkeit und der Abgeschlossenheit, sucht er vergeblich in den großen Thälern, in denen eine dichte Bevölkerung lebt. Die kleinen muß er hinauf wandern, will er eingehen in die einsamen Kämmerchen der Hochalpenwelt, in das Allerheiligste des Gottestempels, wo, wie einst Moses auf dem Sinai, der Mensch emporgezogen wird zum Schöpfer und des Herrn Stimme vernehmlich hört.
Wer von Salzburg am frühen Morgen aufbricht, und über Hallein das Salzachthal hinaufwandert, erreicht, nach 6 Stunden, den Flecken Golling. 7000 Fuß hohe Bergreihen fassen das Thal hier zu beiden Seiten ein, verbunden durch eine Felswand, durch die der Strom eine enge Pforte brach. Es ist der Paß Lueg. So blühend und lachend wie bisher die Gegend gewesen, so wild und wüst ist sie jetzt geworden. Die Salzach wälzt ihre grünen, schäumenden Wogen über große Felstrümmer hin, und bald hoch auf Mauern an Abgründen weg, bald durch gesprengtes Gebirg, bald unter einsturzdrohenden, weitüberhängenden Felsen fort zieht nun der Weg. Dumpfer Donner dringt in’s Ohr des Lauschenden. Er ahnet es schon, des Gollinger Falls ferne Stimme ist es. Erwartung beflügelt den Fuß; halb ist die Felsecke erreicht, wo der Weg sich plötzlich wendet, noch ein Schritt, und er steht, von Staunen festgebannt, vor der Scene, die das Bild so trefflich darstellt.
Anfangs wagt man kaum, nur hinauf zu schauen zur hohen Kluft, durch welche die Ache ihrem Felsenhause entspringt. In weitem Bogen schießt die mächtige Gletscherfluth, dunkelgrün, mit blendendweißem Gischt durchwirkt, über die plötzlich abgebrochene Steinwand. Als wollte er die Fliehende erhaschen, tritt ihr ein Fels entgegen; aber kühn entschlüpft sie durch einen zweiten Sprung, mit dem sie den Abgrund erreicht. Ungeheuere Rauchsäulen wirbeln aus demselben empor und die Wände ihres Kerkers hinan, wie Dankopfer ihrer Erlösung. Und
Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Achter Band. Bibliographisches Institut, Hildburghausen, Amsterdam, Paris, Philadelphia 1841, Seite 79. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_Universum_8._Band_1841.djvu/87&oldid=- (Version vom 3.12.2024)