Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Neunter Band | |
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Noch prangt dieser uralte Wächter an der Grenzmarke Italiens und Deutschlands auf seinem Felsen am südlichen Fuße der Alpen ganz und unversehrt, wie zu den Zeiten, als er die deutschen Kaiser mit ihrem Gefolge von Fürsten und Grafen und vielen tausend Rittern zur Krönung und Huldigung und oft zu Krieg und Schlachten nach Rom ziehen sah. Damals gab es keine andere Alpenheerstraße aus Deutschland nach Welschland, als die über den Brenner. Sie führte durch Trient, wo zuerst der warme Hauch Hesperiens die nordischen Naturen fächelte, wo die Orange ihre goldene Frucht ihnen zuerst auf den Weg streute. Herkömmlich wurde in Trient Halt gemacht und während langer Rasttage der Vorgeschmack italischer Luft aus vollem Becher genossen. Die Burg war bei solcher Gelegenheit der Aufenthalt des Kaisers, und darum hatte sie den Rang einer kaiserlichen Pfalz. Dort empfing das höchste Haupt unter den weltlichen Herrschern die Deputationen seiner welschen Länder und Provinzen, die Boten der freien Städte und der Fürsten, die Prunkgesandtschaften der mächtigen Republiken Pisa, Genua und Venedig. Da war das weite Haus oft zu enge, die Menge der huldigenden Gäste zu fassen, und festliche Turniere, Schmaus und Gelag reiheten sich an einander in unaufhörlichem Wechsel. Wie anders jetzt! Staub ist das römische Reich und seine ganze Herrlichkeit; die römische Kirche selbst, ihres Heiligenscheins baar, verblutet aus vielen Wunden und die dreifache Krone ihres obersten Bischofs gilt nicht mehr als Symbol der Oberallmacht auf Erden und im Himmel. Auch in der Trienter Burg kehrt kein Kaiser mehr ein. Ein Hausvoigt wohnt jetzt oben, und steigt zuweilen noch ein fremder Gast hinan, so geschieht es nur um des schönen Ausblicks willen südwärts gegen die reichen Gefilde Oberitaliens und nach Nord in die große Welt der Alpen.
Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Neunter Band. Bibliographisches Institut, Hildburghausen, Amsterdam, Philadelphia 1842, Seite 96. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_Universum_9._Band_1842.djvu/104&oldid=- (Version vom 31.12.2024)