Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Neunter Band | |
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Du sahest einst Germaniens Völkerkraft,
Du sahst die Herrlichkeit des alten Roms,
Du sahst den Glanz des deutschen Kaiserthums,
De sahst den Mann, der einst mit großem Sinn
Der Welt die Glaubensfreiheit wiedergab! -
Wär’ gar nichts sonst aus jener hehren Zeit
Geblieben dir: es ruhte dennoch, Worms!
Mein Geist voll Ehrfurcht aus an deiner Stätte,
Und dächt’ an Weltgeschichte, Vaterland und Luther.
Im Duft und Schmelz der Legende stand das heilige Worms schimmernd vor der Seele des Knaben, und auf den Fluthen des Rheins rauschten die Sagenklänge des Vaterlandes in dessen Vorstellungen herüber. Siegfried und Chriemhilden, den Königsdom und den Rosengarten, den Landungshafen und all’ die andern Stätten der Sage, umspannte meine rege Phantasie auf einmal, sobald der Name Worms genannt wurde, und die Kluft der Zeit überspringend, reihete sie unmittelbar daran die große Schlußscene des Mittelalters – Luther vor Kaiser und Reich. Ein Gewand, das Zaubergewand kindlicher Poesie, umhüllte das Ganze, die Schatten der Mythe, wie die Gestalten der Geschichte. Worms kam meiner deutschen Knabenseele vor, wie eine Königin der Städte, wie die rechte deutsche Maaleiche, an deren Stamm und Aesten sich alles Große und Herrliche im Vaterlande mit seinen Blüthendolden und Früchten hinanrankte und klammerte. So recht aus dem Grunde des Gemüths gedachte ich ihrer nur mit Ehrfurcht, und ich beneidete den Schiffer, der an ihren Mauern und Thürmen vorübersegelte, oder den Handwerksburschen, der dort einspräche, wie der Gläubige den Pilger beneidet aus dem heiligen Lande. Diese Vorstellungen verschwanden freilich bald genug und schon, als ich die nüchterne Erkenntniß mit aus der Schulstube nach Hause brachte. Dem alternden Mann aber ist kaum ein schwacher Nachhall in der Erinnerung geblieben, und des guten Worms Wirklichkeit ist auch wenig dazu geeignet, das buntschimmernde, idyllische Bild wieder aufzufrischen.
Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Neunter Band. Bibliographisches Institut, Hildburghausen, Amsterdam, Philadelphia 1842, Seite 123. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_Universum_9._Band_1842.djvu/131&oldid=- (Version vom 1.1.2025)