Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Neunter Band | |
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Das Haus, wo der Held Tyrol’s, Oestreich’s, Deutschland’s – ein Heros, hoch und rein in einer Zeit voll Schande und Schmach – geboren ward, und als renommirter Handelsmann und Weinwirth sein Gewerbe trieb heißt „am Sand.“ Es liegt unweit Meran im Passeyer Thal, an dessen Ausgang die Heerstraße nach Italien über das Stilfser Joch vorüber zieht, und in einer der schönsten Landschaften Tyrols. An Weingärten und fetten Alpweiden hin, dem raschen, murmelnden Bergwasser entlang, steigt der Wanderer aufwärts nach Sankt Leonhard, und in geringer Entfernung von da sieht er das stattliche Haus auf grüner Matte. Im Hintergrunde des Thals öffnet sich die Hochalpenwelt – starren die ewig beschneiten Firnen und schimmern die Gletscher.
Wie der germanische Grundcharakter streng, ernst, ethisch ist, so ist auch der Charakter der deutschen Kunst. Die heitere Naturplastik, welche das Christenthum in der römischen Westwelt aus der classischen Zeit mit herüber genommen hatte, konnten die Germanen, welche diese Welt zertrümmerten, nicht fassen, und Gothen, Langobarden, Franken, ein Herrscherstamm nach dem andern, bildeten sie nach ihrer Weise um. Den deutschen Völkern wurde die christliche Religion nicht als bloßer Formtausch, sondern als Gabe freier, tiefer Ueberzeugung, bei welcher der Verstand einen eben so großen Antheil hatte, als das Gemüth. Der Christusglaube war für sie die That ihrer höchsten religiösen Ahnungen, und als deutsche Kunst die Aufforderung bekam, ihr eine leibliche Gestaltung zu geben und die Seele in den todten Stein zu tragen: da rang sie viele Jahrhunderte lang beharrlich mit dem widerstrebenden Stoffe, bis sie sich zur höchsten Klarheit emporgerungen und im Stande war, nach einem durchgehenden, leitenden Grundgesetz, das dennoch freie Bewegung zuließ, Formen und Verhältnisse in bestimmte Fügung, dabei in steter Wechselbeziehung und immer nach Einheit strebend, bis in’s Einzelnste zu ordnen und zu gliedern. Nun thürmte der Deutsche seine ewigen Münster auf, und Deutsche wurden die Baumeister aller der Völker, wo germanisches Blut zur Herrschaft gelangt war. Auf diese Weise wurde unsere Kunst von der Grenze Laplands bie nach Sizilien, und von Jerusalem und Batalha bis nach Riga verbreitet. Ueberall in den fremden Ländern nahm sie zwar nationale Elemente auf, die aber viel zu schwach waren, die Grundtype zur Unkenntlichkeit zu verwischen. Sie ist in Mailand, in Neapel und Palermo eben so deutlich sichtbar, wie in Nowgorod, im Tempel des heiligen Grabes, in der Cathedrale zu Burgos, im Cölner Dom und in Wien’s Sankt Stephan.
Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Neunter Band. Bibliographisches Institut, Hildburghausen, Amsterdam, Philadelphia 1842, Seite 12. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_Universum_9._Band_1842.djvu/20&oldid=- (Version vom 28.12.2024)