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Seite:Meyers Universum 9. Band 1842.djvu/24

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Die großartigste Entfaltung des germanischen Tempel-Bausystems ist in der Façade, die der Stahlstich darstellt, am besten kenntlich. Zwei Hauptthürme bilden die Seiten und die Nebenpfeiler streben als zierliche Thürmchen empor. Drei Portale führen in die Kirche. Ueber dem Hauptportal ist das große Prachtfenster, durch dessen gemalte Scheiben magisches Licht in das Mittelschiff fällt. Alle Verzierung an Außenwänden und Thürmen rankt aufwärts – versinnbildlichend das Streben und die Sehnsucht, die der Erde nicht angehören. Leider sind die Spitzen der Thürme von Blitz und Feuer zerstört; sie bestanden aus freistehenden Rippen, zwischen denen durchbrochenes Rosettenwerk eingesponnen war. Wo endlich die acht Rippen an den äußersten Spitzen zusammenliefen, da breitete eine majestätische Blume in heiliger Kreuzform ihre Blätter gegen den Himmel aus, das Ziel ahnen lassend, welches menschliche Kraft nicht zu erreichen vermochte.

Die statuarische Kunst geht hier schwesterlich mit jener des Steinmetzen Hand in Hand, und nicht blos das Innere hat sie geschmückt, auch auf der Außenwand vom Tempel des ewigen Gottes hat sie eine himmlische Heerschaar versammelt. Die Bildsäulen heiliger Märtyrer und Apostel, der heil. Jungfrau und der Erzengel, sammt der Fürsten des alten Bundes, Moses, der Propheten und Patriarchen, sind in mehrfachen Nischenreihen über einander geordnet, oder getragen von Consolen. Andere reihen sich in den Wölbungen der Portale, und selbst die Giebel sind noch mit Statuen oder Reliefs angefüllt. Eben so nehmen die tabernackelartig gehaltenen Thürmchen der Strebepfeiler Standbilder auf.

Das Innere ist solches Aeußern würdig. Durch die gemalten Fensterscheiben treten, wie in verklärter Lichterscheinung, die Gestalten derjenigen Religion dem Blick entgegen, welche überall das Körperliche zu vergeistigen strebt. Unzählige selbstständige Monumente kleinerer Dimensionen sind in den Kirchenschiffen versammelt und halten dem Beschauer einen ergötzlichen Reichthum bildlicher Darstellung entgegen: so die Altarwerke, die Tabernakel, die Kronleuchter und jene 84 geschnitzten Chorstühle, welche, Kunstwerke des fünfzehnten Jahrhunderts, allein im Stande seyn würden, den weitherkommenden Kunstfreund für seine Mühe und Kosten reichlich zu entschädigen.