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Seite:Meyers Universum 9. Band 1842.djvu/44

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CCCLXXXII. Kostroma.




Es ist eine rührige Zeit wie keine. Alle Völker haben Werkeltage, – alle bauen, sey es an ihrer Größe, sey es an ihrem Untergange. Ueberall sieht man die Dinge dem Aeußersten zustreben, und die Wendepunkte suchen, von wo ein Weitergehen zu den Gegensätzen führt. Und wem Mühlsteine an die Füße gebunden sind, daß er nicht weiter kann, der strampft sich wenigstens ab und sucht fortzukommen, wie das Pferd im Tretrade. Was ist’s, was alle Völker in Geschwindschritt gesetzt hat? – Nicht blos die neuen Elemente sind’s, welche Wissenschaft und Erfindung in das Daseyn geworfen; nicht blos die Nothwendigkeit ist’s, welche, wie in einer Maschine, wo ein in Gang gekommenes Rad das Gehen anderer Räder und Getriebe nach sich zieht, Stillestand verbietet, wenn andere Nationen in Bewegung sind; sondern auch die Furcht. Mißtrauen und Furcht sind jetzt mehr als jemals im europäischen Staatsleben Hauptagenten, und sie tragen ihre Gesichter ohne Larve zur Schau. Früher war’s Frankreich, was den übrigen europäischen Staaten die meiste Furcht einflößte; jetzt ist die Furcht vor Rußland noch viel größer, und noch viel direkter und wirksamer greift sie in die Getriebe. Schon seit Jahren hat, zumal in Deutschland, der Instinkt des Volks, welcher das drohende Verderben viel sicherer erkennt als die flache Unnatur jener Bildung, welche so oft auf Fürstenstühlen und an Steuerrudern sitzt, gegen jene Seite sich gewendet. Des Kaisers Nicolaus letzte Reise in Deutschland hat die dunkeln Gefühle zuerst zur Klarheit gebracht und es ist da wieder einmal wahr geworden, daß Gottes Hand die Absichten der Menschen oft zu entgegengesetzten Zielen führt. Was aber im Volke klar geworden war, das konnte den Regierungen nicht länger verboten bleiben, und – Congresse, wie wir sie vor einigen Jahren in Deutschland unter Rußland’s leitender Theilnahme sahen, – sehen wir nicht wieder. Jeder Deutsche nicht nur, jeder Freund der Civilisation auch, darf sich aufrichtig freuen über diese Wendung der Dinge, und wenn Preußen, der Reichsthorwart in Ost und West, wie es jetzt thut, seine Marken gegen den Bedroher befestigt, so erkennt darin die öffentliche Meinung eine ächt-deutsche Maßregel, die ihm den Dank und die Sympathie der gesammten Nation erwirbt.

Peter der Große schrieb Rußlands Bestimmung mit Riesenbuchstaben auf das Erdrund ein, als er an der westlichsten Grenzmarke seines Reichs die Fundamente der neuen Hauptstadt grub. Damit war dem gesammten Russenvolke der Schwerpunkt verrückt. Binnen den seitdem vergangenen hundert Jahren ist es weit vorgeschritten,