es in Österreich wieder Landschaften, die durch hohe Gebirgszüge, durch fremde Volksstämme vom Reiche und auch von ihrem Volkstum in Österreich getrennt sind, deren Lieder darum in Stoff und Form, in den Singweisen ein ganz eigenartiges Gepräge zeigen, ohne daß die gemeinsamen Fäden abgerissen würden.
Eine Darstellung der besonderen Art des deutschen Volksliedes in Österreich müßte also einzelne Ländergruppen und Landesteile ins Auge fassen: die Alpenländer, die Sudetenländer, Sprachinseln usw. Hier blühen die Lieder wie Feld-, Wiesen-, Wald- und Alpenblumen in vielgestaltigen Formen und Farben und zeigen doch in einzelnen abgeschlossenen Gebieten eine bodenständige Flora. Ich kann hier bei der Betrachtung dieser Volksdichtung nicht verweilen und weise nur auf meine ausführliche Charakteristik des deutschen Volksliedes in Österreich-Ungarn hin, die vor 14 Jahren in der „Zeitschrift des Vereins für Volkskunde“ an der Spitze des vierten Bandes erschienen ist.
Nur weniges möchte ich aus dieser Studie herausgreifen. In ganz Deutsch-Österreich werden Lieder in der Mundart gesungen. Von zwei Gesichtspunkten aus, von der geographischen Lage und den Verkehrsverhältnissen einerseits, vom Stoff und der Art der Lieder andererseits, kann man den Gebrauch der Mundarten beobachten. Danach sind die Lieder im südlichen Österreich, in den Alpenländern, auch im Böhmerwald, der volkskundlich dazugehört, in der Sprachinsel Gottschee – alles gebirgige und waldreiche Gegenden – zum großen Teil in der heimischen Mundart gehalten, vielfach noch in ganz urwüchsiger Form. Im nördlichen Niederösterreich, namentlich in der Umgebung von Wien, in Mähren (mit Ausnahme des abgeschlossenen Kuhländchens), in Schlesien, in Deutschböhmen, also in Ebenen und Hügelländern mit stärkerem Verkehr als in den anderen Gebieten Österreichs, ist der Liederschatz ungefähr zu zwei Dritteilen schriftdeutsch, zu einem Drittel mundartlich. Und zwar sind schriftdeutsch die Balladen und erzählenden Lieder höheren Stils, mit Rittern und Edelfräulein, Schlössern und Burgen, auch die geschichtlichen Lieder, welche alle nicht an bestimmte Landschaften gebunden sind, welche überall Spannung, Mitleid, Bewunderung erwecken, welche früh von wandernden Handwerksburschen, Reitern, Landsknechten, Studenten, Hausierern von Land zu Land getragen, auf Flugblättern und in Sammlungen gedruckt, von Tonsetzern in der Singweise umgearbeitet worden sind und so auch ihre ursprünglich mundartliche Färbung abgestreift haben. Ähnlich verhält es sich mit den meist von Geistlichen verfaßten kirchlichen Liedern, mit den feierlichen Chorgesängen von Bergleuten, Soldaten und Zünften. Diese Art Lieder werden auch in abgelegenen Ländern, also auch in den Alpen, wenigstens im letzten Jahrhundert, zumeist schriftdeutsch gesungen. Dieser feierlichen Volksdichtung steht eine weit größere Schar von schlichten, auch meist kürzeren Liedern gegenüber, mit Stoffen, die aus dem gewöhnlichen Leben des Alltags, aus örtlichen Ereignissen und Zuständen, auch mit deutlich landschaftlicher Färbung erwachsen sind. Alle mit einer packenden, anschaulichen, witzigen, auch derben Darstellung versehen, alle von Leuten aus dem Volke und darum in der Mundart verfaßt. Besonders beliebt sind darunter die Vierzeiler, die in der österreichischen Alpenwelt heimisch und ungemein reichlich vertreten sind, aber auch anderwärts nicht fehlen. Alle diese Lieder werden auch in den Sudetenländern, wie überhaupt in Mitteldeutschland,
Oskar Dähnhardt (Red.): Mitteilungen des Verbandes deutscher Vereine für Volkskunde Nr. 8. Richard Hahn (H. Otto), Leipzig 1908, Seite 10. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Mitteilungen_des_Verbandes_deutscher_Vereine_f%C3%BCr_Volkskunde_8.djvu/10&oldid=- (Version vom 1.8.2018)