kann wohl sagen, überhaupt nicht gekannt hatte, wurde nun bei der Absonderung der Juden dem Antisemitismus zugänglich. Zugleich tauchte die weitere Frage auf, wenn die Juden ihre besondere Behördenorganisation hatten, warum dann nicht auch die Katholiken gegenüber den anderen christlichen Bekenntnissen.
Das Denken der Litauer war zu solide, auch das der dortigen Juden glücklicherweise, so daß der Spuk der jüdischen Autonomie in diesem Ländchen schnell entschwand, und die Autonomie wurde beseitigt; freilich ließ sich das alte, tatsächlich ausgezeichnete Verhältnis zwischen christlichen Litauern und Juden nicht eben so schnell wieder vollkommen herstellen. Die Zeit wird die unsinnige Improvisation der ideologischen, jüdischen Theoretiker vergessen machen.
Völlig anders war die Entwicklung in dem wiedererstandenen polnischen Staat.
Polen gab sich eine moderne, demokratische Verfassung, mit der auch die Juden zufrieden sein konnten, und diese Verfassung wurde auf dem Verwaltungswege von einer Bureaukratie interpretiert und gehandhabt in so antisemitischen Sinne, daß der Geist des verstorbenen Ministers Plehwe seine Freude an diesen Schülern hätte haben können. Die Verfassung war für die Juden in Polen ein totes, freilich modernes Wort; und die polnische Bureaukratie von oben bis unten und von unten bis oben handelte im Geiste des ausgesprochensten Antisemitismus. Es gibt heute keinen Staat in der Welt, in dem der Antisemitismus in diesem Umfang ungescheut staatlicherseits in die Erscheinung tritt, wie die Polnische Republik; nicht einmal Rumänien und Ungarn kann als Rivale auftreten.
Steht Polen auch in dieser Beziehung vor einem Umschwung?
Paul Nathan: Das Problem der Ostjuden. Philo Verlag und Buchhandlung GmbH, Berlin 1926, Seite 18. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Nathan-Das_Problem_der_Ostjuden_(1926).djvu/18&oldid=- (Version vom 1.8.2018)