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Basilius sagte: „Der Reiche ist ein Dieb“; und Ambrosius sagte: „Die Natur predigt das Recht der Gemeinschaft, und nur ein Unrecht hat das Eigentum geschaffen“; und Johannes Chrysostomus ließ sich vernehmen: „Der Reiche ist ein Räuber . . . Es wäre besser, wenn alle Güter gemeinschaftlich wären“. Und diese Liste ließe sich vervollständigen.

Daß Judentum und Christentum an irgend eine Form der Staatskonstruktion oder an irgend eine Form der Güterverteilung gebunden sind, ist ein Vorurteil, das nur dadurch entstehen konnte, daß die kirchlichen Vertreter jener Religionen sich oft genug, aber mit Unrecht, zugleich als die geborenen Stützen bestimmter Regierungssysteme ausgegeben und betätigt haben. Das entsprach vielfach ihren persönlichen Interessen und ihren persönlichen Neigungen; aber es entspricht nicht den innersten Kräften der Religionen, die sie zu vertreten hatten und tatsächlich zu vertreten vorgaben.

Warum die Sowjet-Republik nicht religiös tolerant im modernen Sinne sein kann, und zwar der Orthodoxie gegenüber, ist daher aus dem innersten Wesen ihrer Staatsidee schwerlich abzuleiten, und somit sollte dieser Staat in dieser Beziehung auch wandlungsfähig sein. Wie man annehmen kann, liegt eine solche Evolution nicht außer dem Bereich der Möglichkeit.

Ob jüdische Kreise in Rußland orthodox oder religiös-liberal oder atheistisch gerichtet sind, berührt ganz gewiß nicht die Grundlagen des Sowjet-Staates und überhaupt nicht seine Konstruktion.

Völlig anders geartet und tiefgreifend sind die ökonomischen Probleme, denen im Sowjet-Staate das russische Judentum gegenübersteht.

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Paul Nathan: Das Problem der Ostjuden. Philo Verlag und Buchhandlung GmbH, Berlin 1926, Seite 23. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Nathan-Das_Problem_der_Ostjuden_(1926).djvu/23&oldid=- (Version vom 1.8.2018)