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wohlzuthun; ich suche seinen Kummer zu mildern, seine Thränen zu trocknen, ich weine mit dem Unglücklichen und freue mich mit dem Glücklichen, ich hüte mich sorgfältig ihn zu verletzen oder durch harte Reden oder hämische Anspielungen ihn zu kränken, ich übe Geduld und Sanftmuth gegen meine Umgebung, und bin liebreich und freundlich gegen meine Untergebenen; dem Armen und Dürftigen neben mir verschließe ich niemals meine Hände, mit Freuden bringe ich der Nächstenpflicht jedes Opfer, und wo sie mich ruft, antwortete ich stets: „Hier bin ich.“

Wie glückselig ist das Leben, das unter den Einflüssen einer solchen Liebe dahingeht. Unter ihrem reinen Strahl klären sich alle Wünsche und Gefühle des Herzens, da weicht die Sünde, da fliehen die unseligen Leidenschaften und nur reine und lautere Triebe füllen Herz und Seele.

Eine solche Liebe, o Gott, gieße in mein Herz, eine solche Liebe laß mich durchdringen, der du bist der Ursprung und Urquell aller Liebe. Amen.


Zum Schlusse des Versöhnungstages. (Nëilah.)

So fern der Morgen ist vom Abend,
Entfernt er unsre Schuld von uns.
 (Ps. 103, 12.)

Allmächtiger, Allbarmherziger! Es neigt sich zu Ende der heilige Tag, den wir in ununterbrochener Buße und Kasteiung, im Ringen nach Läuterung und Heiligung unsrer Seele verlebt haben. Und noch einmal erheben wir unser flehendes Auge zu dir, und noch einmal rufen wir in heißer Inbrunst deinen Namen an, und preisen dich, der du die Pforten deiner Barmherzigkeit öffnest dem reuig wiederkehrenden Sünder, und die Schuld des Missethäters tilgest in der Kraft deiner Gnade!

Es scheidet der Tag, o juble und freue dich, meine Seele, mit ihm scheidet und schwindet die Sündenlast, die dich gedrückt. Geläutert, gesühnt, erhoben hat dich der Herr, er hat erhört seines Volkes flehende Stimme, unser Fasten und Kasteien als wohlgefälliges Sühnopfer aufgenommen und die versöhnende Vaterhand uns dargereicht. Als büßende Sünder haben wir das Haus betreten, als schuldlose Kinder verlassen wir es.

Empfohlene Zitierweise:
Fanny Neuda: Stunden der Andacht. Wolf Pascheles, Prag 1858, Seite 63. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Neuda-Stunden_der_Andacht-1858.pdf/75&oldid=- (Version vom 1.8.2018)