Denken wir uns das ganze Meer in zwei halbkugelförmige Ströme getheilt, von denen der eine, nach Norden gerichtete, sich auf der Halbkugel KHk, der andere nach Süden gerichtete, sich auf der entgegengesetzten Halbkugel Khk befindet. Diese Ströme sind einander immer entgegengesetzt, und kommen nach der Reihe in den Meridian jedes Ortes auf der Erde, in der Zwischenzeit von 12 Mondstunden. Da aber die nördlichen Gegenden mehr am nördlichen Strome, die südlichen am südlichen Antheil haben; so müssen sich zusammengesetzte Fluthen bilden, welche wechselweise grösser und kleiner in jedem Orte ausserhalb des Aequators sind, in welchem beide Gestirne auf- und untergehen. Die grösste Fluth wird also, wenn der Mond gegen das Zenit des Ortes hin abweicht, nahe auf die dritte Stunde nach der oberen Culmination des Mondes fallen; wechselt die Abweichung des Mondes, so wird diese Fluth die kleinste werden. Der grösste Unterschied dieser Fluthen trifft auf die Zeit der Solstitien, besonders wenn der aufsteigende Knoten des Mondes im ersten Punkte des Widders liegt. Dies stimmt mit der Erfahrung überein, denn im Winter sind die Morgenfluthen grösser, als die des Abends; im Sommer ist das Umgekehrte der Fall. In Plymouth steigt dieser Unterschied auf 1 Fuss, in Bristol auf 15 Zoll, wie Colepress und Sturm beobachtet haben.
Die Bewegungen des Meeres, von denen ich bisher gesprochen habe, werden ein wenig durch diese wechselseitige Kraft der Gewässer geändert, vermöge welcher die Fluth noch einige Zeit wird fortdauern können, obgleich die Einwirkung beider Gestirne bereits aufgehört hat. Diese Erhaltung der Bewegung, wenn letztere einmal beigebracht ist, vermindert den Unterschied der wechselseitigen Fluthen und bewirkt, dass die unmittelbar nach den Syzygien eintretenden grösser und die nach den Quadraturen kleiner ausfallen. Desshalb sind die wechselseitigen Fluthen in Plymouth und Bristol nicht um viel mehr als 1 Fuss oder 15 Zoll von einander verschieden, dergestalt dass die grössten Fluthen in diesen Häfen nicht die ersten, sondern die dritten nach den Syzygien sind. Alle diese Bewegungen werden verzögert, wenn das Meer über Untiefen fortgeht, so dass die allergrössten Fluthen in gewissen Meerengen und Strom-Mündungen nur erst auf den vierten oder fünften Tag nach den Syzygien fallen.
Ferner kann es auch vorkommen, dass die Fluth sich vom Ocean durch verschiedene Meerengen nach demselben Hafen fortpflanzt, und schneller durch die einen als durch die anderen fortgeht. Hierdurch wird dieselbe Fluth in zwei oder mehrere zertheilt, welche nach einander ankommen und sie bildet so neue Bewegungen verschiedener Art. Denken wir uns zwei gleiche Fluthen, welche aus verschiedenen Orten nach demselben Hafen gelangen, und von denen die eine der anderen um 6 Stunden vorangeht, und um die dritte Stunde nach der Culmination des Mondes den Hafen erreicht. Befände sich der Mond bei seiner Culmination im Aequator, so würden alle 6 Stunden gleiche Fluthen eintreten,
Isaac Newton: Mathematische Principien der Naturlehre. Robert Oppenheim, Berlin 1872, Seite 414. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:NewtonPrincipien.djvu/422&oldid=- (Version vom 1.8.2018)