Ferdynand Antoni Ossendowski: Schatten des dunklen Ostens | |
|
Beginnt das Jahr zu lenzen, dann ziehen aus China und Korea nach den am Amur und Ussuri gelegenen Ländern ganze Scharen von Chinesen und Koreanern.
Es sind die armseligsten und völlig deklassierten Einwohner aus dem Reiche der Mitte.
Während ein Teil der Ankömmlinge sich unter die Arbeiter mengt, die in Gold- und Kohlengruben werken, treten andere in den Häfen von Wladiwostok und Nikolajewsk und bei den Bauern oder bei den ussurischen oder amurischen Kosaken in Dienst.
Die Mutigen und Tatenfesten aber unter ihnen wandern tiefer, in die Ursteppe, wo allherrschend und allgefürchtet der amurische Tiger haust, und suchen da auf eigen Glück in den unbekannten Betten der Gebirgsflüsse nach Gold, Edel- und Halbedelsteinen oder sie irren auf den Gipfeln der Sichota-Alin-Berge umher, um die wundertätige, heilende Wurzel der Djen-Scheng-Pflanze zu finden, die so kostbar wie das Gold ist.
Zwischendurch gelingt es diesen unternehmungslustigen Asiaten auch Marder, Biber und schwarze Zobel zu erjagen, die in den sumpfigen Niederungen der Berge hausen.
Schwer, hart und gefahrvoll ist die Arbeit der Zugewanderten.
Nicht nur der amurische Tiger, welcher gelbes Menschenfleisch besonders liebt, sondern auch der seiner Zwangsarbeit entflohene Schwerverbrecher aus Sachalin bedroht ständig das Leben der hier arbeitenden Chinesen und Koreaner.
Ist der Sommer um und beginnt der Herbst, treten die Einwanderer wieder den Weg zur Heimkehr an.
Ihre Schliche und Wege sind bekannt wie der Strich der Gänse und Wildschwäne, die gleich den Chinesen und Koreanern im Frühling kommen und im Herbste ziehen.
Und wenn die Einwanderer ihre sauer erarbeiteten Schätze packen, um sie heimzubringen, liegen die russischen Bauern und Kosaken im
Ferdynand Antoni Ossendowski: Schatten des dunklen Ostens. Eurasia, Wien 1924, Seite 109. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ossendowski_-_Schatten_des_dunklen_Ostens.djvu/113&oldid=- (Version vom 15.9.2022)