Ferdynand Antoni Ossendowski: Schatten des dunklen Ostens | |
|
Ich beobachtete genau den Kaffee in der Vase und kann beim besten Willen nichts wahrnehmen.
Die geheimnisvollen Manipulationen muten mich als Stimmungsmacherei an.
Bei ihrer Wahrsagerei versteht sie es vortrefflich, den Wünschen ihrer Klienten entgegenzukommen.
Die Prophezeiungen aus Wasser und Blut, die heidnischen Ursprungs, werden in Rußland ebenfalls sehr betrieben.
In der Gegend des Pskower Gouvernements, wo in der Versunkenheit sumpfiger Einöden, dichter Wälder und an den Ufern des großen Flusses mit den zahllosen Sandbänken und des finsteren Pskower Sees die Bauern wie vorsintflutliche Menschen hausen, sind die „Blut- und Wasserpropheten“ am meisten daheim.
Die Pskower Gegend, nur vier Stunden von der Hauptstadt Rußlands entfernt, ist als die typischeste von ganz Rußland anzusehen.
In Baluzje, einem Dorfe dieser Gegend, das umgeben von einem Ring sumpfiger Seen und Flüsse, herrschte die Cholera, Opfer um Opfer fordernd.
Die Bauern wollten wissen, wer ihnen die Epidemie in ihre gottverlassene Gegend gebracht, und riefen nach dem Wahrsager.
Ein Greis, fast hundertjährig, in einer entlegenen Hütte am Ufer eines Waldsees hausend, wird gefunden.
Ein schwarzes Schaf und einen alten Mühlstein bringt man ihm auf sein Geheiß nach Untergang der Sonne in die Hütte.
In der Nacht, beim ersten Hahnenschrei, führt der Hundertjährige den Bock, an Hals und Hörnern mit Gras und Kräutern geschmückt, aus der Hütte, schneidet ihm die Kehle durch und besprißt den Mühlstein mit des Tieres Blut, macht dabei Feuer an, geheimnisvoll murmelnd.
So wartet er, bis an des Feuers Boden Glut geworden, nimmt sie behutsam aus den Flammen mit den nackten Fingern und wirft sie auf den Mühlstein hin.
Da gerinnt das Blut des Schlachtbockes und verkohlt in kleineren und größeren Klumpen.
Dichter Rauch steigt auf und der Wahrsager, seinen schneeweißen Bart und sein langes Haar sich zerraufend, fängt markerschütternd zu schreien an:
Ferdynand Antoni Ossendowski: Schatten des dunklen Ostens. Eurasia, Wien 1924, Seite 31. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ossendowski_-_Schatten_des_dunklen_Ostens.djvu/35&oldid=- (Version vom 15.9.2022)