Ferdynand Antoni Ossendowski: Schatten des dunklen Ostens | |
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Kennt man die schrecklichen Einöden des russischen Nordens, kann man den Schamanismus, den Dämonenkultus, wohl verstehen.
Da, wo die Natur durch ganze Chöre der verschiedenartigsten und furchtbarsten Stimmen beherrscht wird, wo die totbringenden heulenden Stürme des Eismeeres vorherrschen, wo in Sümpfen die Seuchen lauern, wo wildes Tier und verwilderte Menschen in ihren von Hunger und Verzweiflung glühenden Augen den Tod tragen, wird dieser Kultus ja geradezu zur Notwendigkeit.
Erde und Luft sind hier mit blutigen Tränen, Klagen und Flüchen getränkt, mit den Flüchen derjenigen, die durch den Zaren und seine unintelligente Bürokratie zu Tod und Einsamkeit verbannt wurden, weil sie nach Recht und Freiheit aufgeschrien, wofür sie nun hier in verschneiten Ebenen und Wüsten alle, früher oder später, in den Märtyrergräbern, die zu Hunderten und Tausenden hier liegen, verschwinden.
Für dieses von Gott und Mensch verfluchte Sibirien ist der Schamanismus, den nur noch die aussterbenden wilden Nomaden pflegen, wie geschaffen.
Aber nicht nur in Sibiriens Öden, auch im eigentlichen Rußland, sogar in den großen Städten sind Schamanen zu treffen.
Zwei davon sind mir begegnet.
Ich war Gymnasialschüler und verbrachte meine Ferien mit meinem Freunde, einem Arzt, auf der Kolsker Halbinsel.
Einmal fuhren wir nach dem Gouvernement Olonez und mußten in einer Entfernung von mehreren Kilometern vor der Stadt Petrosawodsk in einem großen Dorfe übernachten.
Wir kehren in einer Gastwirtschaft ein, in einer schmutzigen, abscheulichen Bude, nach Schnaps und Feuchtigkeit riechend.
Ferdynand Antoni Ossendowski: Schatten des dunklen Ostens. Eurasia, Wien 1924, Seite 49. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ossendowski_-_Schatten_des_dunklen_Ostens.djvu/53&oldid=- (Version vom 15.9.2022)