jenes Verfahren ankommt, wodurch der menschliche Verstand fähig ist, eine bestimmte Einzelvorstellung, z. B. ein bestimmtes Dreieck, als Repräsentanten aller möglichen einzelnen Dreiecke zu benützen. Dieses Verfahren, die Funktion des Verallgemeinerns und Abstrahierens ist es, die zu erklären wäre, und die wir auch in der höchst scharfsinnigen Untersuchung Berkeleys vermissen.
Da nun die Lehre vom Raume und der Zeit davon abhängig ist, welche Auffassung wir von jener Funktion unseres Verstandes haben, die wir Abstrahieren nennen, sei es mir gestattet, meinen Standpunkt in dieser fundamentalen Frage der Erkenntnistheorie kurz zu kennzeichnen. Ich meine, daß eine Thätigkeit des Abstrahierens immer stattfindet, so oft der menschliche Verstand ein Urteil fällt, und daß die Funktion des Urteilens überhaupt mit der Funktion des Abstrahierens zusammenfällt. So oft ich nämlich irgend eine sinnenfällige Thatsache wahrnehme, drücke ich immer diese eine Thatsache durch eine Verbindung von zwei Begriffen (dem Subjekts- und dem Prädikatsbegriff des Satzes) aus. Ich verstehe unter der Funktion des Abstrahierens eben jenes Verfahren des menschlichen Verstandes, vermöge dessen er eine beliebige Thatsache der Erfahrung nicht durch ein sprachliches Zeichen, sondern durch die Verbindung zweier solcher Zeichen zum Ausdrucke bringt. Das ist ja, wie mir scheint, das Wunderbare in aller menschlicher Verstandesthätigkeit, daß sie dasjenige, was uns im wirklichen Sein als Einheit gegeben ist, doch durch eine Zweiheit von sprachlichen Zeichen zur Darstellung bringt. Und ich vermag mich des Eindruckes nicht zu erwehren, daß die Philosophen sich über dieses Verfahren des Verstandes nicht zur Genüge verwundert haben; wenigstens finde ich es schon bei Aristoteles, daß er es wie eine Selbstverständlichkeit hinnimmt, daß ein Urteil, welches doch im Grunde bloß eine Wahrnehmung des
Menyhért Palágyi: Neue Theorie des Raumes und der Zeit. Wilhelm Engelmann, Leipzig 1901, Seite VI. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:PalagyiRaumzeit.djvu/6&oldid=- (Version vom 1.8.2018)