Alfred Kerr (Hrsg.): Pan (6. Juni 1912) | |
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drückende Verlegenheit befällt ihn, seine Gedanken sind zerstreut. Abends schleicht er an eine Türe, um zu horchen; drinnen läßt man alle Vorsicht außer acht und spricht laut und vernehmlich.
„So ein Lump“, sagt der Großvater und räuspert sich.
„Er ist es sicher gewesen“, meint die Großmutter mit ihrer kränklichen Stimme, „niemand sonst im ganzen Haus ist einer solchen Gemeinheit fähig.“
Da sagt Luise: „So jung und schon verdorben! Schrecklich, nicht? So etwas sollte man doch ausrotten!“
Franz erschrickt, denn er kann sich das nicht zusammenreimen. Da fällt ihm die Zeichnung ein, die er vorhin gesehen hat, und alles wird ihm klar. Man glaubt, daß er es gewesen sei. Der Knabe verliert die Fassung und wird bleich. Er haßt und verachtet seine Großeltern, dennoch beunruhigt ihn dieser Verdacht. Dabei kann er sich nicht einmal dagegen verwahren, da ihn niemand beschuldigt hat. Er müßte ja eingestehen, daß er an der Tür gehorcht habe.
Während des Abendbrodes kann er niemandem in die Augen sehen. Alle aber blicken auf seine Augen, die niedergeschlagen sind. Er ißt nur wenig, obgleich ihn Hunger quält. Er hat keine klare Vorstellung von den Beziehungen der Geschlechter, ahnt jedoch, daß man nun seine gemeine Gesinnung für erwiesen hält. Man geht zu Bett; auch der Knabe entkleidet sich, läuft aber noch im Nachthemd zur Tür Luisens. Er sieht Licht, doch alles ist still. Plötzlich bricht er in Tränen aus, rüttelt an der Tür und ruft schluchzend:
„Laß mich hinein, Liesel, ich muß dir was sagen.“
Das Mädchen befürchtet einen Skandal und beschließt, ihn hereinzulassen. Franz steht in ihrem Zimmer, aber ein Nebel ist vor seinen Blicken. Sie fragt:
„Wie siehst du denn aus? Was willst du denn?“
„Ich bin es nicht gewesen, wirklich nicht, ich habe die Zeichnung nicht gemacht!“
Einen Augenblick Schweigen; er weint.
„Es hat dich ja niemand beschuldigt!“
„Ich weiß es doch, ich weiß, ich hab gehorcht! Wie kannst du das von mir denken?“
„Also du horchst, schämst du dich nicht? Schämst du dich nicht, an der Tür zu horchen?“
Da wird die Tür vom Schlafzimmer der Großeltern ein wenig geöffnet. Franz läuft im Nachthemd hin und drückt sie sofort wieder zu. Er schluchzt, die Tränen rollen ihm über
Alfred Kerr (Hrsg.): Pan (6. Juni 1912). Hammer-Verlag G.m.b.H., Berlin 1912, Seite 831. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Pan_(6._Juni_1912).djvu/17&oldid=- (Version vom 1.8.2018)