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begann zu zittern, denn nur ein ganz gefühlloser Mensch hätte in so einem traurigen Augenblicke gleichgültig bleiben können. Die arme von allen verlassene Tote, die vielleicht in der Fremde, weit von den Ihrigen entschlafen und nun in der Begräbnisstunde diesen beiden herzlosen Weibern überantwortet war; die arme, betrübte Waise, die regungslos vor Schmerz am Sarge ihrer Mutter stand, um die sich auch niemand in der Welt kümmerte, die in leichter, dürftiger Kleidung vor Kälte zitterte – o, dieses Bild war herzzerreissend! Ich konnte es nicht ertragen und musste Rat schaffen.

„Fräulein!“ sagte ich zu dem Mädchen, „sprechen Sie für Ihre Mutter ein letztes Gebet, denn es ist schon Zeit, sie zu bestatten!“

Die Unglückliche schien wie aus einem tiefen Schlummer zu erwachen und warf einen irrenden Blick auf mich.

„Was sagen Sie?“ stammelte sie, ohne mich zu erkennen.

Ich wiederholte ihr meine Worte und wies mit der Hand auf den Sarg ihrer Mutter hin.

„Ist es denn wahr, dass meine Mutter gestorben ist?“ sagte sie mit bebender Stimme, sank auf den Sarg nieder, umfing ihn mit ihren Armen und schien die Besinnung zu verlieren.

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Rafael Patkanjan: Drei Erzählungen. Wilhelm Friedrich, Leipzig [1886], Seite 106. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:PatkanjanDreiErz%C3%A4hlungen.pdf/116&oldid=- (Version vom 1.8.2018)