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mit der Geschwindigkeit; sie wird unendlich groß, wenn diese Geschwindigkeit gleich derjenigen des Lichtes wird. In dem Maße, wie die Geschwindigkeit wächst, wird auch der Widerstand gegen das Anwachsen zunehmen. Es wird folglich die Geschwindigkeit eines Körpers auch niemals diejenige des Lichtes erreichen oder überschreiten können, weil, um diese Grenze zu überschreiten, ein unendlich großer Widerstand überwunden werden müßte. Darin besteht also das Wesen der neuen Mechanik: keine Geschwindigkeit im Weltall kann größer werden als die Geschwindigkeit des Lichts; die Lichtgeschwindigkeit bildet eine unübersteigliche Schranke. Wie groß auch die beschleunigende Kraft sei, und wie lange sie auch einwirken möge, niemals kann sie diese Schranke überwinden. Der „Lumen“ von Flammarion ist nicht mehr möglich. Er ist uns eine Traumgestalt, zu großartig, um verwirklicht werden zu können. Es liegt ein Widerspruch in den Bestimmungen vor. Und nun verschwindet die oben angegebene Schwierigkeit. Wenn diese Hypothese oder dieser Traum sich nicht mit dem Prinzip der Relativität vertrug, so kommt das daher, daß sie in sich einen Widerspruch trägt. Bei näherer Betrachtung sieht man, daß auch in den nicht so an der Grenze liegenden Fällen, in denjenigen, welche dem Versuche zugänglich sind, die Schwierigkeiten in gleicher Weise verschwinden.

Ich will gleich einem naheliegenden Einwurf begegnen. Hier habe ich ein Fahrzeug (1). Nach unseren Hypothesen kann seine Geschwindigkeit nicht über 300000 km wachsen, wohl aber kann sie sich dieser Grenze beliebig nähern; es wird also eine Geschwindigkeit von 200000 km haben dürfen. Auf diesem Fahrzeug stellen wir uns einen Beobachter vor, und dann wollen wir uns noch ein zweites Fahrzeug denken. Nach dem Prinzip der Relativität wird dieses Fahrzeug (2) in bezug auf den Beobachter dieselbe scheinbare Geschwindigkeit annehmen können, als wenn der Beobachter in Ruhe wäre, etwa auch 200000 km. Dann bewegt sich Fahrzeug (2) mit 200000 km in bezug auf den Beobachter, welcher sich selbst aber schon mit 200000 km Geschwindigkeit bewegt. Das würde im ganzen 400000 km machen, und damit wäre die Lichtgeschwindigkeit überschritten. Dies ist nun eine Schlußfolge, die ganz unseren alten Denkgewohnheiten entspricht; aber man muß gerade von diesen alten Denkgewohnheiten abgehen. Vergessen wir nicht, daß nach der neuen Mechanik die Zeit nicht mehr als absolute Größe betrachtet werden kann, daß der in Bewegung befindliche Beobachter sie nicht immer so einschätzt wie wir, daß er infolgedessen die Geschwindigkeit nicht so rechnet wie wir. Denselben Geschwindigkeitsunterschied, welcher ihm wie 200000 km erscheint, würden wir etwa bei unserer Art, die Zeit zu rechnen, nur zu 50000 km veranschlagen, so daß also die totale Geschwindigkeit für uns nur 250000 km wäre.

Bis so weit hat uns die Lorentzsche Theorie nur Hypothesen zu verarbeiten gegeben, die ganz annehmbar sind. Leider befindet sich unter ihnen noch eine, die sich viel schwieriger verdauen läßt. Sie ist aber unumgänglich, wenn das Prinzip der Relativität auch für Geschwindigkeiten Gültigkeit behalten soll, deren Richtung nicht mit der Richtung

Empfohlene Zitierweise:
Henri Poincaré: Die neue Mechanik. B.G. Teubner, Leipzig 1911, Seite 14. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:PoincareMechanik.djvu/14&oldid=- (Version vom 1.8.2018)