Seite:Pomologische Monatshefte Heft 1 051.jpg

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Und wer wollte dieses Treiben vertheidigen? Das ist nicht die Art der Pomologen, sondern der bloßen Speculanten, die ihre Wechslerbuden überall aufschlagen, wo sich Leben und Verkehr zeigt. Ihr Daseyn ist daher zugleich ein indirekter Beweis, daß der Eifer für den Obstbau noch nicht erstorben ist, und daß manche neue Anpflanzung besser und glücklicher ausfallen würde, wenn ihre Unternehmer besser unterrichtet und berathen wären. Statt aber gegen diese Parasiten, die den Aufschwung unseres Obstbaues so sicher begleiten werden, wie Wespen und Hornissen, mit den Waffen der Wissenschaft, welche sie und die von ihnen Getäuschten wenig berühren, vergeblich zu kämpfen, dürfte es weit räthlicher seyn, in der Praxis auf der Bahn weiter fortzugehen, welche der Preußische Gartenbauverein durch die allgemeine deutsche Obst- und Gemüseausstellung in Naumburg betreten hat, in der theoretischen Pomologie aber da weiter fortzubauen, wo Superintendent Oberdieck in seiner bereits genannten Anleitung schon so Erfreuliches geleistet hat, wenn es auch nicht räthlich seyn dürfte, bei Zusammenstellung der Synonymen nach v. Biedenfeld’s Vorgange alle nur irgendwo einmal aufgetauchten Namen zu berücksichtigen, weil es sonst bei der Unkunde vieler Obstzüchter mit der Zeit selbst dahin kommen könnte, daß jede etwas weit verbreitete Obstsorte unter hundert verschiedenen Namen aufgeführt würde.

Aber – so höre ich mir einwerfen – wie soll die zusammenstellende Pomologie nun endlich einen Abschluß gewinnen, wenn alle Jahre eine Menge neuer Obstsorten auftauchen, so daß selbst die vollständigste Pomologie schon nach wenigen Jahren wieder lückenhaft und ungenügend wird? Ich frage dagegen: Welche andere Wissenschaft ist denn bei uns für immer abgeschlossen und fertig? Müßte man nicht aus demselben Grunde gegen den Fortgang der Weltgeschichte, der Literatur, der Astronomie, der Chemie und überhaupt aller Naturwissenschaften sich erklären, was doch gewiß kein Mann der Wissenschaft jemals thun wird? Wie viel neue Stoffe und Verbindungen fördert nicht die organische Chemie alljährlich an’s Tageslicht? und wie sehr hat nicht neuerdings die Zahl der entdeckten kleinen Planeten zwischen Mars und Jupiter zugenommen, ohne daß die strebsamen Chemiker oder Astronomen jemals einen endlichen Abschluß begehrt hätten? So muß es auch in der Pomologie und überhaupt in jeder Wissenschaft seyn, die noch inneres Leben und Fortbildungsfähigkeit besitzt.

Deßhalb soll man aber nicht sogleich jede neue aus der Fremde oder durch Kernaussaat gewonnene Obstsorte in die pomologischen Handbücher aufnehmen und beschreiben, sondern die Pomologen sollen sie nur nicht ohne Weiteres zurückweisen, nicht völlig unbeachtet lassen. Denn jeder Obstkern liefert ein neues Obstbaumindividuum, oder wie wir gewöhnlich sagen, eine neue Obstsorte, so daß selbst die Kerne eines und desselben Apfels, wie ich mich durch mehrere Versuche überzeugt habe, von einander verschiedene Apfelsorten liefern. So wenig nun der Nekrolog der Deutschen alljährlich die Lebensbeschreibungen der Million Deutscher liefert, welche in einem Jahre sterben, und so wenig die Weltgeschichte die Namen, Thaten und Schicksale aller Menschen enthält, die bisher gelebt haben, ebensowenig kann und soll die beschreibende Pomologie alle neu gewonnenen Obstbaumindividuen aufführen und beschreiben. Vielmehr muß der pomologische Schriftsteller ebensogut das Hervorragende und Ausgezeichnete vom Gewöhnlichen und Alltäglichen zu unterscheiden wissen, wie der Biograph und der Geschichtsschreiber.

Empfohlene Zitierweise:
Ed. Lucas, J. G. C. Oberdieck (Hrsg.): Monatsschrift für Pomologie und praktischen Obstbau I. Franz Köhler, Stuttgart 1855, Seite 51. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Pomologische_Monatshefte_Heft_1_051.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)