Seite:Ramdohr-Venus Urania-Band 3.1.djvu/77

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gewiß aus dem individuellen Charakter des Helden völlig erklärt werden kann, und folglich für die Sitten, und besonders für die guten Sitten in Athen nichts Zuverlässiges folgern läßt.

Klytemnestra wendet sich an den Achilles. „O ihr heiligen Gesetze der Schamhaftigkeit!“ ruft dieser aus, als er sie erblickt. „Eine Frau von so seltener Schönheit hier mitten unter den Kriegern!“ Sie entdeckt ihm, wer sie sey. Achilles will sich aus Ehrfurcht zurückziehen. „Du weißt“, sagt er, „daß es mir nicht erlaubt ist, mit einer verheiratheten Frau zu reden.“ Sie will ihm die Hand geben: er glaubt durch ihre Berührung den Agamemnon zu beleidigen. Klytemnestra beruft sich darauf, daß sie seine Schwiegermutter werden würde.

Was läßt sich daraus schließen? Daß der Dichter das öffentliche Erscheinen eines Frauenzimmers ohne Begleitung für eben so unanständig gehalten hat, als die vertrauliche Unterredung der verheiratheten Matronen mit Fremden; daß aber seinen Grundsätzen nach dieser Zwang zwischen Mitgliedern einer Familie wegfiel. Ich bin überzeugt, daß mehr als ein Land in Europa vor ungefähr hundert Jahren die nehmlichen Grundsätze über Sittsamkeit des Weibes hatte, ohne dieß darum mit den Sklavinnen und den blödsinnigen Familienmitgliedern in eine Klasse zu setzen.

Achilles sagt: „Ich würde Iphigenien aufgeopfert haben, wäre sie mein Weib gewesen. Das allgemeine Beste meiner Bundesgenossen zu befördern, wäre mir nichts zu theuer. Aber sie haben mich nicht in ihren Rath genommen, sie haben, ohne mich zu fragen, meinen Nahmen gemißbraucht, um Iphigenien herzulocken,