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Über das Bildungsgesetz der gothischen Baukunst.
(1849.)

Allem Wahren, sobald dasselbe in einer concreten Erscheinung sich darstellt, liegt ein tieferes, allgemeines Gesetz zu Grunde, eine lebendige Geometrie, wenn ich so sagen darf, welche ihm gleichsam als Scelett, als Rüstwerk dient. Aufgabe der höheren Wissenschaft ist es, dieses allgemeine Gesetz in der Mannigfaltigkeit der Erscheinungen zu erkunden, jene feste Unterlage zu gewinnen, auf welcher allererst die Freiheit ihre Thaten zu wirken vermag. Was für das Wahre gilt, findet auch auf das Schöne Anwendung. Ja, es gibt im Grunde nur Eine Wissenschaft, von welcher die Kunst einen Zweig bildet. So wie der Anatom aus einem Knochenfragmente ein Geschöpf einer untergegangenen Welt construiren kann, weil jeder Theil einem bestimmten, das Ganze durchherrschenden Gesetz seine Form verdankt, so wird und muß auch das echte Kunsterzeugniß in allen seinen Theilen einer Grundformel gehorchen. Um mich nicht allzuhoch zu versteigen, will ich nicht von der Musik des Weltbaues reden, die in ihren Consonanzen und Dissonanzen ertönt, während das Ganze von der Strenge des Gesetzes erfaßt ist, ich will zunächst nur auf ihren Reflex, die irdische Musik hinweisen. In Betreff ihrer wird es Niemand bezweifeln, daß ihre ganze Wirkung auf einem mathematischen Wurzelwerke beruht, dessen einzelne Constructionstheile die Seele im Rhythmus ergreifen und in eine höhere Welt erheben, daß sich in ihr die einfachsten Grundverhältnisse, unter der Einwirkung der geistigen Thätigkeit freilich, jedoch stets nach festen, unabänderlichen arithmetischen Gesetzen zum phantastischsten, lebensvollsten Reichthume gestalten, um in die Sphäre der Schönheit aufzusteigen. Wie die Musik das Erhabene und Schöne in der Zeit darstellt, so die bildende Kunst im Raume mittelst des Nebeneinanderseins und der Ausdehnung, mittelst fester Gestaltungen. Insbesondere aber zeigt die Architektur, welche vor allen anderen Künsten den Charakter strenger Gesetzmäßigkeit voraus hat, die innigste Verwandtschaft mit der Musik und es ist kaum noch eine Metapher, wenn man sie gefrorne, krystallisirte Musik nennt. Die Musik und die Architektur sind Zwillingskünste, entsprossen derselben Grundidee und gegenseitig sich ergänzend. Die vorchristliche Welt ahnte wohl diese, mit den geheimnisvollen Wechselbeziehungen zwischen Freiheit und Nothwendigkeit verketteten Grundverhältnisse, ohne indeß jemals in deren Tiefen einzugehen. Wie es der geehrte Präsident unseres

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August Reichensperger: Über das Bildungsgesetz der gothischen Baukunst. Leipzig: T. O. Weigel, 1865, Seite 125. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Reichensperger_Christliche_Kunst_125.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)