Seite:Reichensperger Christliche Kunst 127.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

würde. Wir wollen daher blos das Allgemeinste, Allbekannte erwähnen, was übrigens im Grund schon mehr Wirkung als Ursache ist: das Hereinbrechen der Antike in die christlich-germanischen Ordnungen. Erst versuchte man die antike Form mit dem christlichen Geiste des Mittelalters zu verschmelzen, ohne zu gewahren, daß es sich hier um principielle Gegensätze handele, zwischen welchen ein Theilen in die Herrschaft unmöglich sei. Hauptsächlich durch den Einfluß der Gelehrten und der Höfe[1] gewannen die classischen Studien und damit die ganze entsprechende Geistesrichtung die Oberhand. Vergebens klammerten sich zwar noch hier und da die Meister der Bauhütten krampfhaft an ihre alte glorreiche Kunst - wie das Volksrecht, so sollte auch die Volkskunst gänzlich aus dem Gesichtskreise der Lebenden verschwinden, selbst ihre Traditionen verschollen. Alles Wissen und Können des Mittelalters ward keines Blickes mehr gewürdigt, wie ein nebelerfülltes Thal ließ man es zur Seite liegen.

Man hat die sprüchwörtliche Warnung nicht bedacht, daß man einen Ast nicht eher soll aus den Händen lassen, bevor man einen andern erfaßt hat; die nationale Kunst war man allerdings los geworden; vergebens aber wendete man alle Mittel und Kräfte auf, um eine neue an ihre Stelle zu setzen. Nur ein Zerrbild der Antike tauchte auf, nicht die Antike selbst, deren Lebensbedingungen sämmtlich fehlten. Man konnte wohl aufhören, christlich zu fühlen, zu denken und zu schaffen, aber ein Helene war man damit noch lange nicht geworden; daß man es werden zu können glaubte, es werden wollte, darin lag der große Irrthum, das ganze Unheil. Die Richtung ihres Wollens, ihre leitenden practischen Principien, wahrlich nicht ihr Forschen und dessen Ergebnisse mache ich jener Zeit zum Vorwurf. Die christliche Kunst verdiente nicht, daß sie lebe, daß sie jemals gelebt hätte, wenn sie den Vergleich mit der vorchristlichen zu scheuen brauchte. Dank daher, bleibenden Dank den Männern (und an ihrer Spitze glänzt derjenige, dessen Andenken wir heute feiern), welche die Schatzkammern des classischen Alterthumes uns erschlossen, welche die verschütteten Herrlichkeiten vorchristlicher Bildung ausgegraben und wieder ans Licht gebracht haben! Nur hätte man nicht den Schutt über die Denkmale der Kunst seiner eigenen Väter hinwerfen, über dem Parthenon nicht den Cölner Dom vergessen sollen! Man hat ihn aber vergesse, ihn wie seine Schwestercathedralen und alle die Monumente (einstmals der Stolz der Nationen), die demselben Geiste entsprossen sind, man hat die Formel, das Wort vergessen, welchen der unendliche Reichthum ihrer Bildungen gehorcht. Da man allerwärts Verschiedenheit erblickte, schloß

  1. Die Medicis, Franz I. und seine Nachfolger.
Empfohlene Zitierweise:
August Reichensperger: Über das Bildungsgesetz der gothischen Baukunst. Leipzig: T. O. Weigel, 1865, Seite 127. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Reichensperger_Christliche_Kunst_127.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)