man auf Willkür, irregeleitet eben durch die Antike, deren Ordnungen feste, fertige Formen bilden, die man corrumpirt, sobald man sie nicht copirt, während der mittelalterlichen Kunst nur feste, man darf fast sagen, abstracte Normen, Biidungsgesetze zum Grunde liegen. Es ist ein geometrisches Schema, dessen Netzwerk nirgendwo unmitteibar in die Erscheinung tritt, so wenig wie das arithmetische Schema einer musikalischen Composition, die sich, wie bereits angedeutet, ebenso aus den Momenten der Zeit zusammensetzt, wie die Architektur aus den Momenten des Raumes.
Man braucht nur die, den Gedanken des Baues auf seinen kürzesten Ausdruck bringenden Grundrisse der großen mittelalterlichen Architekturen genau zu analysiren und mit den Aufrissen zu vergleichen, um sich davon zu überzeugen, daß auch den complicirtesten Formationen, ja selbst den der organischen Natur entnommenen decorativen Theilen ganz einfache Grundelemente sowie ein festes Entwickelungsgesetz unterliegen, welches letztere jedoch insofern relativer Natur ist, als jedes einzelne Bauwerk seine besonderen Factoren enthäit. Baid ist es der Kreis, bald das Quadrat, bald das Dreieck, wodurch - um den technischen Ausdruck der alten Bauhütte zu gebrauchen - des „Chores Maß und Gerechtigkeit“ und damit weiter in genetischer Fortbildung der ganze Bau normirt wird.
Alle Wechselbeziehungen gehen von einem bestimmten Keimpuncte aus und sind durchaus rationell. - Der Grundriß einer gothischen Kirche, ausgestattet mit seinen Hülfslinien, führt uns gleichsam einen geistigen Crystallisationsproceß vor das Auge, indem er zugleich an die Klangfiguren erinnert, welche das Netzwerk der Musik aus dem Zeitlichen in das Räumliche übertragen, aus dem Gebiete des Gehöres in das des Gesichtes. Wir erblicken sodann im Aufrisse, wie er sich unmitteibar vor das Auge hinstellt, den Körper des Baues, dessen Seele gewissermaßen der Grundriß beschließt. Faßt man den Aufriß näher ins Auge, so wird man finden, wie er mit logischer Notwendigkeit aus dem Grunde erwächst, wie an dem ganzen Werke kein Glied vorkommt, welches nicht durch die Grundconstruction bedingt ist und zugleich einen bestimmten Zweck in derselben zu erfüllen hat, wie jede Gliederung und jedes Ornament nur als eine höhere Entwicklung der notwendigen Constructionstheile erscheinen, gleichsam eine Verflüchtigung der strengen Mathematik des Grundrisses, eine consequente Fortbiidung desselben in das freie Gebiet der Schönheit. Wie die Blätter eines Baumes in lebenvoller, unendlicher Mannigfaltigkeit den Ästen entwachsen und doch immer Gesetz und Wesen des Stammes an sich tragen, so das Stab- und Maßwerk, die Fialen und Rosetten, die Blätter und die Blumenkronen einer Cathedrale des Mittelalters. Da ist nichts wahrzunehmen, was nicht auf eine innere Nothwendigkeit hindeutete,
August Reichensperger: Über das Bildungsgesetz der gothischen Baukunst. Leipzig: T. O. Weigel, 1865, Seite 128. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Reichensperger_Christliche_Kunst_128.jpg&oldid=- (Version vom 18.1.2021)