wird, wohingegen das Heidenthum nur einer geringen Anzahl Eingeweihter den Zutritt in den eigentlichen Tempelraum gestattete, das Volk aber stets außerhalb des Heiligthumes hielt. Wie nach der obigen Ausführung der gothische Kirchenbau als Ganzes gleichsam die Verkörperung des im Grundrisse niedergelegten Gedankens ist, so das Äußere der Reflex des Inneren, nur nach den zwecklichen und statischen Bedingungen modificirt. Obgleich von außen her nirgendwo ein Durchblick ins Innere gestattet ist, wird der Kenner aus Ersterem sofort sich das Letztere bis in seine Einzelheiten construiren können, so rationell, so durchdacht, so organisch ist ihr Zusammenhang. Ein jeder der mächtigen Strebepfeiler, die wie ein Wald von Thürmen die mittelalterliche Cathedrale umdrängen, um mittelst der auf sie gestützten Strebebogen den Schub der Gewölbe aufzunehmen und zu paralysiren, eine jede dieser so massenhaften und doch so schlank und leicht erscheinenden Bildungen ist gewissermaßen ein Mikrokosmus des ganzen Baues, dessen Tendenz und Gesetz sich, nur mannichfach gebrochen, in ihr widerspiegeln. - Es versteht sich, daß alles bisher Gesagte nur von den wahrhaft classischen, im Wesentlichen nach Einem Grundplane ausgeführten Kirchenbauten des Mittelalters gilt, und man daher erst die Entstehungsgeschichte eines Baues sich zu vergegenwärtigen hat, bevor man daran auf jene Sätze die Probe machen darf. Nicht wenig Cathedralen ersten Ranges, wie z. B. die von Straßburg und Freiburg, waren bei dem Aufleben des gothischen Styles bereits im Baue begriffen und der Baumeister mußte daher zu Nothbehelfen seine Zuflucht nehmen, um die Bedingungen des alten mit denen des neuen Styles zu vermittein.
Wenngleich die bauliche Mechanik und die Formensprache des Mittelalters in den kirchlichen Bauten den klarsten, kräftigsten und vielgestaltigsten Ausdruck findet, wie dies bei der Geistesrichtung jener großen Periode nicht anders zu erwarten ist, so walten doch auch in allen sonstigen Schöpfungen derselben aus jedwedem Materiale dieselben leitenden Principien: überall, vom colossalen Befestigungsthurme an, bis herab zur schlichten, aus Holz gezimmerten Wohnung des Landmannes (wie uns solche noch das altväterliche Tyrol und der Schwarzwald in Fülle bewahrt haben), begegnen wir derselben Zweckmäßigkeit und gediegenen Schönheit, mit einem Worte: derselben Wahrheit.
Die vorstehenden Bemerkungen, welche nur wenig hervorragende Puncte der unendlich verzweigten Materie berühren, sie gleichsam nur aus der Vogelperspective behandeln konnten, mögen vielleicht hier und da in dieser geehrten Versammlung dem Verdachte begegnet sein, daß nachträglich den alten Meistern Manches auf die Rechnung gesetzt sei, woran sie selbst nimmer gedacht hätten, daß man in ihre Werke Constructionen und Principien
August Reichensperger: Über das Bildungsgesetz der gothischen Baukunst. Leipzig: T. O. Weigel, 1865, Seite 130. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Reichensperger_Christliche_Kunst_130.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)