Seite:SeebergAusAltenZeiten.pdf/109

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Paul Seeberg: Aus alten Zeiten : Lebensbilder aus Kurland

wo man ein Recht hat, ihn zu fragen, da weiß er zu reden und zu raten. Seine liebste Sprache sind die Kern­lieder aus dem alten Gesangbuch, die er sämtlich auswendig weiß und vor den Thüren singt, und wenn ihm das Herz aufgeht, dann beginnt er zu reden von dem einen was not thut, von Jesu Trost und Frieden, daß einem die Augen naß werden. Keine Schule hat ihn unterwiesen; aber alle Sonntage stand er in der Kirche, das Auge ge­schlossen, die Ohren offen, und weit, weit auf das Herz. Da hat denn Gottes Geist mit ihm geredet und ihm Weis­heit geschenkt, daß mancher, der beide Augen hat, zu seinen Füßen sitzen könnte.

Unterdessen sind wir dem Hofe Wahnen nah gekommen. Die Gruppen zerstreuen sich. Reiter und Wagenlenker springen herab und binden ihre Pferde an die Ständer und an die Zäune in langen Reihen. Das junge Volk und auch manche von den Alten wenden sich dem Kruge zu, von welchem der Klang einer Fidel, einer Klarinette und einer Baßgeige zu uns herübertönt. In den Ecken haben sich die Stammgäste gruppiert, mit den Pfeifen im Munde, den Bierkrug vor, an des einen oder des andern Seite die wachsame Ehegenossin, die der Männer rauhe Weise und Rede nicht fürchtet, einzig bedacht, das eigne Männlein vor einem gefährlichen Zuviel zu bewahren. In der Ecke am Ofen haben sich die Musikanten niedergelassen. Naturgenies ersten Ranges, die keiner Note bedürfen. In der Mitte aber des großen, niedrigen, rußigen Zimmers, in welchem eine erstickende Luft waltet, drehen sich dichtgedrängt alte und junge Tänzer und rotwangige Dirnen in dichtem Wirbel. Und er weiß sie zu elektrisieren, — das muß man ihm lassen, der magere, lahme Schneider Dankwart. So selig lächelnd und siegesgewiß sieht er bald auf seine Geige, bald auf die tolle Welt zu seinen Füßen. Und wer könnte es

Empfohlene Zitierweise:
Paul Seeberg: Aus alten Zeiten : Lebensbilder aus Kurland. J. F. Steinkopf, Stuttgart 1885, Seite 111. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:SeebergAusAltenZeiten.pdf/109&oldid=- (Version vom 16.9.2022)