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Paul Seeberg: Aus alten Zeiten : Lebensbilder aus Kurland

zu stark gewesen sein. Am andern Morgen fiel es ihm beim Erwachen auf, daß ihm alle Gegenstände braun er­schienen. Es beunruhigte ihn, aber er hoffte, es werde sich geben und sagte niemand ein Wort. Aber beim Mittag­essen bemerkte der Vater, daß er nach der Gabel tastete, und als Großvater nach geendeter Mahlzeit aufstand und, wie es seine Gewohnheit war, in sein Zimmer zurückkehren wollte, nahm die Mutter mit Schrecken wahr, daß er die Thürklinke nicht sehen konnte, sondern nach ihr suchte. Mit Thränen in den Augen fragte sie ihn, was es damit sei. Da sagte er ihr’s denn, was Gott über ihn verhängt habe. Der Gedanke, andern zur Last fallen zu müssen, war für ihn ein schrecklicher; ja auch nur die Besorgnis, durch die bloße Mitteilung über sein Unglück den Seinen Schrecken und Trauer zu bereiten, hatte seine Lippen geschlossen. Die damalige ärztliche Kunst, zumal soweit sie dort erreichbar war, hatte kein Mittel gegen seine Krankheit. Er selbst, der heimgesuchte, blinde Mann, ergab sich mit dem sanften, stillen Geist, der ihm eigen war, in seines Gottes Willen. Mit den Worten Hiobs (2, 10): ‚Haben wir Gutes empfangen von Gott und sollten das Böse nicht auch annehmen?‘ fügte er sich in sein bittres Geschick, ohne Murren, ohne Klage, ohne Entmutigung. Seine einzige Bitte: „Liebe Kinder, verlaßt mich nicht!“ war gewiß über­flüssig ; denn die Liebe, die alt und jung mit ihm verband, ward durch die Heimsuchung, die ihn getroffen, nur noch inniger und teilnehmender. Freilich war er ja jetzt mehr als je auf sein Stüblein angewiesen, von welchem er meist nur zum Mittags- und zum Abendessen herunterkam, oder, wenn er, wie im Sommer, seinen Spaziergang machen wollte. Wir Kinder waren in letzterm Fall seine Führer und stritten um das Glück, es zu sein; denn es handelte sich nicht bloß um diesen kleinen Dienst, den wir ihm mit

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Paul Seeberg: Aus alten Zeiten : Lebensbilder aus Kurland. J. F. Steinkopf, Stuttgart 1885, Seite 170. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:SeebergAusAltenZeiten.pdf/168&oldid=- (Version vom 22.9.2022)