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Paul Seeberg: Aus alten Zeiten : Lebensbilder aus Kurland

Herr von Klein nicht mit seiner Gegenwart. Man wartete noch einen Tag, eine Woche, und immer erschien er nicht. Im Gegenteil! Die Abwesenheit des Fürsten benützend, an dessen Stelle er sogar die Hausandachten geleitet hatte, war Herr von Klein „infolge einer eben erhaltenen Nachricht von der gefährlichen Erkrankung seiner Mutter,“ in der Equipage des Fürsten nach Mitau gefahren. Dort hatte er alsbald den Baron von H., einen Nachbar und Freund des Fürsten, der ihn oft im Hause des letztern gesehen hatte, aufgesucht und ihm unter dem Vorgeben, daß er verschiedene Einkäufe und Aufträge für den Fürsten zu besorgen gehabt habe, aber um 200 Rubel zu kurz ge­kommen sei, glücklich die genannte Summe abgenommen und darauf schleunigst seine Reise nach Riga fortgesetzt. Nur an Eins hatte der gute Mann nicht gedacht. In S., dem Schlosse des Fürsten, wohnte Zimmer an Zimmer mit ihm ein alter, mürrischer Porträtmaler Grun. Dies war in dem ganzen fürstlichen Hause der einzige Mann, der seine leisen Zweifel an der Frömmigkeit des verhimmelten Herrn von Klein hegte; ja in engerem Kreise hatte er sich sogar nicht entblödet zu sagen: „An dem ganzen Kerl ist kein ehrlicher Faden.“ An Sticheleien hatte es ohnehin unter diesen engen Nachbarn nicht gefehlt, welche der sonst so wortreiche Herr von Klein meist nur mit einem mit­leidigen Blick oder durch Äußerungen über den traurigen Standpunkt des Unglaubens, des „natürlichen Menschen“ u. s. w. beantwortet hatte, die der alte Grun seinerseits mit einem bedeutsamen Zwinkern seines linken Anges hin­nahm. Im übrigen nahm kein Mensch Notiz davon. Kaum aber war der Herr Oberlehrer, natürlich in Begleitung des moralisch guten Menschen, nach Mitau aufgebrochen, als auch schon der Alte die Bemerkung machte, daß ein ihm ge­höriges, silberbeschlagenes Prachtstück von einem Meerschaum­kopf

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Paul Seeberg: Aus alten Zeiten : Lebensbilder aus Kurland. J. F. Steinkopf, Stuttgart 1885, Seite 216. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:SeebergAusAltenZeiten.pdf/214&oldid=- (Version vom 18.9.2022)