Paul Seeberg: Aus alten Zeiten : Lebensbilder aus Kurland | |
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dieser Frage in solchen Augenblicken ist, wenn nichts Zwingendes nach der einen oder der andern Seite vorliegt, – desto angenehmer ist es, wenn von außen her ein Gewicht in die Wagschale geworfen wird, das uns weiteren Suchens und Zweifelns überhebt. Das geschah hier durch ein Anerbieten, als Erzieher in das Haus eines Freiherrn von Gaudy einzutreten. Dies war ein Mann aus der Schule Friedrichs des Großen, ein Mann, der viel von sich selbst forderte und sich darum auch berechtigt hielt, viel von denen zu erwarten, die in seine Dienste traten. Welche Stellung er inne hatte, ob die eines Landrats oder etwas Ähnliches, ist mir nicht mehr erinnerlich; genug, er war in seinem Beruf unermüdlich thätig, gewissenhaft und streng. Für seinen Charakter ist bezeichnend, daß er jeden in undeutlicher Handschrift geschriebenen Brief, die damals freilich noch viel häufiger waren, als jetzt, – ungelesen beiseite legte, „denn,“ pflegte er zu sagen, „der König hat mich nicht dazu angestellt, meine Zeit mit dem Entziffern schlechter Handschriften zu verlieren, und wer mir nicht die Höflichkeit erweist, gut leserlich zu schreiben, kann von mir nicht die andere erwarten, daß ich seine Zeilen beachte.“ Klar und bestimmt war auch das, was er von dem Erzieher seines Sohnes verlangte. Die Art und Weise, in der er seine Forderungen aussprach, raubte freilich dem jungen Kandidaten fast den Mut, eine so große Aufgabe zu übernehmen. Aber der gute redliche Wille, dessen er sich bewußt war, die großen Hoffnungen, die jene für die Pädagogik vielfach Bahn brechende und für Erziehung geradezu schwärmende zweite Hälfte des vorigen Jahrhunderts erweckte, vielleicht auch angeborne Anlage und Neigung, die sich später noch entschiedener kundgab, ließen ihn im Vertrauen auf Gottes Hilfe das nicht allzu leichte Amt antreten. Und er hatte dies nicht zu bereuen. Es war eine glückliche Zeit,
Paul Seeberg: Aus alten Zeiten : Lebensbilder aus Kurland. J. F. Steinkopf, Stuttgart 1885, Seite 81. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:SeebergAusAltenZeiten.pdf/79&oldid=- (Version vom 14.9.2022)