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Theodor Storm: Viola tricolor. In: Westermanns Monatshefte. 35. Jg., Nr. 210. März 1874. S. 561-576

Am Abend war das Conzert. – Die großen Todten, Haydn und Mozart, waren an den Hörern vorübergezogen, und eben verklang auch der letzte Akkord von Beethoven’s C-moll-Quartett, und statt der feierlichen Stille, in der allein die Töne auf- und niederglänzten, rauschte jetzt das Geplauder der fortdrängenden Zuhörer durch den weiten Raum.

Rudolf stand neben dem Stuhle seiner jungen Frau.

„Es ist aus, Ines,“ sagte er, sich zu ihr niederbeugend; „oder hörst du noch immer etwas?“

Sie saß noch wie horchend, ihre Augen nach dem Podium gerichtet, auf dem nur noch die leeren Pulte standen. Jetzt reichte sie ihrem Manne die Hand.

„Laß uns heimgehen, Rudolf,“ sagte sie aufstehend.

An der Thür wurden sie von ihrem Hausarzt und dessen Frau aufgehalten, den einzigen Menschen, mit denen Ines bis jetzt in einen näheren Verkehr getreten war.

„Nun,“ sagte der Doctor und nickte ihnen mit dem Ausdruck innerster Befriedigung zu. „Aber kommen Sie mit uns, es ist ja auf dem Wege; nach so etwas muß man noch ein Stündchen zusammensitzen.“

Rudolf wollte schon mit heiterer Zustimmung antworten, als er sich leise am Aermel gezupft fühlte und die Augen seiner Frau mit dem Ausdrucke dringenden Bittens auf sich gerichtet sah. Er verstand sie wohl.

„Ich verweise die Entscheidung an die höhere Instanz,“ sagte er scherzend.

Und Ines wußte unerbittlich den nicht so leicht zu besiegenden Doctor auf einen anderen Abend zu vertrösten.

Als sie am Hause ihrer Freunde sich von diesen verabschiedet hatten, athmete sie auf wie befreit.

„Was hast du heute gegen unsere lieben Doctorsleute?“ fragte Rudolf.

Sie drückte sich fest in den Arm ihres Mannes.

„Nichts,“ sagte sie; „Aber es war so schön heut’ Abend; ich muß nun ganz mit dir allein sein.“

Sie schritten rascher ihrem Hause zu.

„Sieh nur,“ sagte er, „im Wohnzimmer unten ist schon Licht, unsere alte Anne wird den Theetisch schon gerüstet haben. Du hattest Recht, daheim ist doch noch besser als bei Anderen.“

Sie nickte nur und drückte ihm still die Hand. – Dann traten sie in ihr Haus; lebhaft öffnete sie die Stubenthür und schlug die Vorhänge zurück.

Auf dem Tische, wo einst die Vase mit den Rosen gestanden hatte, brannte jetzt eine große Bronze-Lampe und beleuchtete einen schwarzhaarigen Kinderkopf, der schlafend auf die mageren Aermchen hingesunken war; die Ecken eines Bilderbuches ragten nur eben darunter hervor.

Die junge Frau blieb wie erstarrt in der Thür stehen; das Kind war ganz aus ihrem Gedankenkreise verschwunden gewesen. Ein Zug herber Enttäuschung flog um ihre schönen Lippen.

„Du, Nesi!“ stieß sie hervor, als ihr Mann sie vollends in das Zimmer hineingeführt hatte. „Was machst du denn noch hier?“

Nesi erwachte und sprang auf.

„Ich wollte auf euch warten,“ sagte sie, indem sie halb lächelnd mit der Hand über ihre blinzelnden Augen fuhr.

„Das ist Unrecht von Anne; du hättest längst zu Bette sein sollen.“

Ines wandte sich ab und trat an das Fenster; sie fühlte, wie ihr die Thränen aus den Augen quollen. Ein unentwirrbares Gemisch von bitteren Gefühlen wühlte in ihrer Brust; Heimweh, Mitleid mit sich selber, Reue über ihre Lieblosigkeit gegen das Kind des geliebten Mannes; sie wußte selber nicht, was alles jetzt sie überkam; aber – und mit der Wollust und der Ungerechtigkeit des Schmerzes sprach sie es sich selber vor – das war es: ihrer Ehe fehlte die Jugend, und sie selber war doch noch so jung!

Als sie sich umwandte, war das Zimmer leer. – Wo war die schöne Stunde, auf die sie sich gefreut? – Sie dachte nicht daran, daß sie selbst sie verscheucht hatte.

– – Das Kind, welches mit fast erschreckten Augen dem ihm unverständlichen Vorgange zugesehen hatte, war von dem Vater still hinausgeführt worden.

„Geduld!“ sprach er zu sich selber, als er, den Arm um Nesi geschlungen, mit ihr die Treppe hinaufstieg; und auch er, in einem andern Sinne, setzte hinzu: „Sie ist ja noch so jung.“

Empfohlene Zitierweise:
Theodor Storm: Viola tricolor. In: Westermanns Monatshefte. 35. Jg., Nr. 210. März 1874. S. 561-576. Braunschweig: Westermann, 1874, Seite 567. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Storm_Viola_tricolor_567.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)