Seite:Suphan Das Buch Annette 004.jpg

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Bald entflieht der Freund der Scherze,
Er, dem ich euch sang, mein Freund.
Ach, daß auch vielleicht dies Herze
Bald um meine Liebste weint!

Doch, wenn nach der Trennung Leiden
Einst auf euch ihr Auge blickt,
Dann erinnert sie der Freuden,
Die uns sonst vereint erquickt.

Die Verschen sind niedergeschrieben, als Behrisch sich zur Abreise rüstete (er verließ Leipzig im October), und dieser erste Abschied den Gedanken an einen schmerzlicheren von der Geliebten erweckte. So besitzen wir in ihnen ein bescheidenes Stückchen frühester Goethi’scher Gelegenheitslyrik. Sie erinnern in Gang und Weise schon an die drei Strophen, die seit 1806 in den Ausgaben den Schluß der „Lieder“ bilden:

Liebchen, kommen diese Lieder
Jemals wieder dir zur Hand,
Sitze beim Claviere nieder,
Wo der Freund sonst bei dir stand ....

Nach dem lyrischen Epilog erwartet man in dem Buch „Annette“ ein Sammlung von Liedern[1] zu finden. Aber nicht Lieder, sondern Erzählungen machen seinen Hauptinhalt aus. Die ersten sechs Stücke, die über die Hälfte des Bändchens füllen, sind in den Ueberschriften ausdrücklich als „Erzählungen“ bezeichnet. Es sind verliebte Geschichten, theils in Versen, theils in dem sogenannten gemischten Genre, Prosa mit eingestreuten Versen, wie Goethe schon in Frankfurt Einiges in dieser Mischform verfaßt hatte. Das Lokal ist bald ein arkadisch-schäferliches, bald Klein-Paris-Leipzig, im Grunde aber ist’s einerlei, und ebenso, ob die Mädchen Ziblis, Lyde oder Annette, Charlotte u.s.w. heißen.

Das Wesen aller dieser Dichtungen ist Sinnlichkeit, aber nicht die Sinnlichkeit, die ihr Recht durch Kraft und Gesundheit beweist. Sie haben alle einen Stich ins Lüsterne. Zwei behandeln als Pendants „Die Kunst die Spröden zu fangen“, zwei als die „moralischen“ Gegenstücke den „Triumph der Tugend“; dort erreicht, hier verfehlt der Liebhaber seinen Zweck. Selbsterlebtes kann zu Grunde liegen; wir wissen von Goethe’s Leben in Leipzig genug, um das annehmen zu dürfen, wenn auch Goethe nicht selbst darauf gedeutet hätte; aber die Farbe des Erlebten tragen diese Dichtungen nicht. Zur erzählenden Gattung gehören dann noch zwei von den größeren Stücken. Da ist ein Traum: „Die Liebhaber“. Der Geliebten erscheinen huldigend alle ihre Anbeter, der Soldat, der Kaufmann, der Stutzer u.s.f. und werben um ihre Gunst; erwachend aber umfängt sie den Dichter, den ihr der Traumgott zuletzt zugeführt hat, und ihn zieht sie Allen vor. Findet der Verliebte sich hier einmal ohne Laune und liebenswürdig mit der Thatsache ab, daß er ein


  1. Eine solche Sammlung von „chansons“ hatte Behrisch schon früher ins Reine gebracht. Cornelie erhielt eine Copie davon mit einem Briefe vom 11. Mai 67 (Weimarer Ausgabe IV. 1, 92).
Empfohlene Zitierweise:
Bernhard Ludwig Suphan: Das Buch Annette, Deutsche Rundschau, Berlin: Paetel, 1985, Seite 142. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Suphan_Das_Buch_Annette_004.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2016)