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zu beschwichtigen, wenn sie einmal eine Blöße ihres Lebens offenbart hat.

Die Frauen müssen also mißtrauisch sein. Infolge ihrer Eigenart sind alle Regungen ihres Geistes auf den verschiedenen Stufen der entstehenden Liebe erheblich zarter, ängstlicher, langsamer und unbestimmter. Sie haben also mehr Neigung zur Beständigkeit und lassen von einer einmal begonnenen Kristallbildung nicht so leicht wieder ab.

Eine Frau, die ihren Geliebten erblickt, überlegt auf der Stelle oder überläßt sich völlig dem Liebesglück, bis das ungestüme Vorgehen des Mannes sie jäh veranlaßt, alle Freuden zu lassen und sich eilends zur Wehr zu setzen.

Die Rolle des Liebenden ist einfacher. Seine Augen suchen die Geliebte. Ein einziges Lächeln macht ihn überreich an Glück. Es zu erhaschen, ist sein unablässiges Bemühen. Verse von Dante kommen mir in den Sinn:

Quando leggemmo il disiato riso
Esser baciato da cotanto amante,
Costui che mai da me non fia diviso,
La bocca mi bacció tutto tremante
.“[1]

Ein Mann betrachtet eine lange Belagerung als Demütigung, ein Weib aber als Ruhm.

Eine Frau ist imstande zu lieben und doch mit dem Manne, der ihr gefällt, im Verlaufe eines ganzen Jahres keine zehn oder zwölf Worte zu reden. Sie führt gleichsam im Innern ihres Herzens Buch darüber, wie oft sie ihn gesehen hat: zweimal war er mit ihr im Theater, zweimal hat er bei einem Diner


  1. [343] Aus: Dante, Hölle V, 133–136. [Die ganze Stelle lautet nach O. Gildemeisters Übertragung:

    „Wir lasen eines Tags zu unsrer Lust
    Vom Lanzelott, wie Lieb’ ihn hielt gebunden,
    Wir beid’ allein, uns keines Args bewußt.
    Oft hatten schon die Augen sich gefunden
    Bei diesem Lesen, oft erblaßten wir.

    [344]

    Doch eine Stelle hat uns überwunden:
    Da, wo das heißersehnte Lächeln ihr
    Zuerst geküßt wird von dem hohen Streiter
    Da küßte bebend meine Lippen mir
    Er, der hinfort mein ewiger Begleiter.
    Galeotto war das Buch und der es schrieb.
    An jenem Tage lasen wir nicht weiter.“]

Empfohlene Zitierweise:
Stendhal übersetzt von Arthur Schurig: Über die Liebe (De l’Amour). Leipzig 1903, Seite 22. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ueber_die_Liebe_022.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)