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11. Kapitel

Warum genießen wir voll Entzücken jede neu entdeckte Schönheit an der Geliebten?

Weil uns jede neue Schönheit die volle Befriedigung eines Wunsches gewährt. Wollen wir unsere Geliebte zärtlich, so ist sie es; wollen wir sie dann stolz wie Corneilles Emilie, so scheint sie uns, obgleich beide Eigenschaften in einem Charakter unmöglich zu vereinbaren sind, augenblicklich die Seele einer Römerin zu haben. Darin steckt ein starker Beweis dafür, daß die Liebe die mächtigste aller Leidenschaften ist. Die anderen passen ihre Wünsche der kalten Wirklichkeit an; nur in der Liebe bemüht sich die Wirklichkeit, sich nach unseren Wünschen zu richten. Sie ist die Leidenschaft, in der das heftigste Verlangen auch den größten Genuß bedingt.

Das Glück hat gewisse Grundbedingungen, von denen jegliche Befriedigung der einzelnen Wünsche in hohem Maße abhängt,

1. Die Geliebte scheint uns zu gehören, weil wir allein sie glücklich machen können.

2. Sie ist die Richterin unserer Vorzüge. Dieser Standpunkt war von erheblicher Bedeutung an den galanten und ritterlichen Höfen Franz des Ersten und Heinrichs des Zweiten, sowie an dem prunkvollen Hofe Ludwigs des Fünfzehnten. Unter einer besonnenen konstitutionellen Regierung geht den Frauen diese Art von Einfluß gänzlich verloren.

3. Sind wir romantisch veranlagt, so finden wir in den Armen der Geliebten Freuden, die um so überirdischer und über dem Schmutz gemeiner Gedanken

Empfohlene Zitierweise:
Stendhal übersetzt von Arthur Schurig: Über die Liebe (De l’Amour). Leipzig 1903, Seite 27. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ueber_die_Liebe_027.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)