Seite:Ueber die Liebe 031.jpg

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leidenschaftlich geliebt zu haben, während unbesiegbare Hindernisse ihrer Liebe entgegenstanden.

Der Anblick alles dessen, was in Kunst und Natur von auserlesener Schönheit ist, lenkt unsere Gedanken mit Blitzesschnelle auf unsere Geliebte. Durch einen mechanischen Vorgang, ähnlich dem in den Salzburger Bergwerken, der den Baumzweig mit Kristallen überdeckt, steht alles Schöne und Hehre in der Welt im Zusammenhang mit unserer Geliebten, und ein unerwarteter Anblick des Glückes füllt unsere Augen mit Tränen. So beleben sich gegenseitig die Liebe zum Schönen und die Liebe zum Weibe.

Es gehört zu den Leiden unseres Lebens, daß das Glück, die Geliebte zu sehen und mit ihr zu reden, keine zuverlässige Erinnerung in uns hinterläßt. Offenbar ist unsere Seele in ihrer Erregung zu verwirrt, um auf die Ursachen und Nebenumstände dieser Erregung zu achten. Sie ist in diesem Augenblicke reine Empfindung. Weil wir solche Freuden nicht nach Belieben hervorufen können, wobei wir ihrer vielleicht überdrüssig würden, so kehren sie um so mächtiger wieder, sobald uns irgend etwas aus den Träumereien aufschreckt, die wir der Geliebten weihen, oder die Geliebte uns durch irgend einen Zusammenhang lebhaft in Erinnerung gebracht wird (zum Beispiel durch Parfüme).

Dieses Empfinden ist so stark, daß es sich selbst auf meine Feindin erstreckt, die täglich mit meiner Geliebten zusammenkommt. Wenn ich jene sehe, erinnert sie mich so sehr an diese, daß ich nicht fähig bin, sie in diesem Augenblicke zu hassen, wenn ich mich auch noch so bemühe.


Empfohlene Zitierweise:
Stendhal übersetzt von Arthur Schurig: Über die Liebe (De l’Amour). Leipzig 1903, Seite 31. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ueber_die_Liebe_031.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)