Seite:Ueber die Liebe 068.jpg

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bin ich glücklich, daß ich mich in den acht Jahren, seit ich mit meinem Gatten entzweit bin, niemandem hingegeben habe.“

In dieser Denkweise finde ich etwas Lächerliches, und doch erscheint die Freude jener Frau voll Leben und Frische.

Meine Männeraugen glauben neun verschiedene Arten von Schamhaftigkeit zu unterscheiden.

Erstens: Eine Frau setzt viel gegen wenig aufs Spiel; deshalb muß sie sehr zurückhaltend sein, oft bis zur Unnatürlichkeit. Sie lacht zum Beispiel nicht über ganz ergötzliche Dinge. Es gehört aber viel Geist dazu, immer das richtige Maß von Schamgefühl zu zeigen. Darum können viele Frauen, wenn sie unter sich sind, nicht genug zu hören bekommen, oder deutlicher gesprochen, sie verlangen dann nicht, daß die Erzählungen, die sie anhören, zu verschleiert sind, ja die Schleier können wegbleiben, je mehr sie in Weinlaune und Ausgelassenheit geraten.

Vielleicht ist es eine Wirkung der Schamhaftigkeit und der damit verbundenen tödlichen Langeweile, daß die meisten Frauen am Manne die Unverschämtheit so hoch schätzen? Oder halten sie die Unverschämtheit für etwas Charaktervolles?

Zweitens: Mein Geliebter wird mich um so höher schätzen.

Drittens: Die Macht der Gewohnheit siegt selbst in Augenblicken der höchsten Leidenschaft.

Viertens: Die Schamhaftigkeit gewährt dem Liebenden sehr schmeichelhafte Freuden: sie läßt ihn empfinden, welche Gesetze eine Frau um seinetwillen verletzt.


Empfohlene Zitierweise:
Stendhal übersetzt von Arthur Schurig: Über die Liebe (De l’Amour). Leipzig 1903, Seite 68. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ueber_die_Liebe_068.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)