Seite:Ueber die Liebe 125.jpg

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sie jeden Tag eines neuen Beweises der Zärtlichkeit bedarf.

Unter Umständen weigert sich der Stolz, sich an eine solche Art von Zuneigung zu gewöhnen; dann tötet der Stolz nach einigen stürmischen Monaten die Liebe. Aber man kann beobachten, daß edle Leidenschaft lange kämpft, ehe sie flieht. Die kleinen Streitfälle der glücklichen Liebe können ein Herz, das trotz schlechter Behandlung noch liebt, lange täuschen. Einige zärtliche Versöhnungen machen den Übergang erträglicher. Zur Entschuldigung des Mannes, den man so sehr geliebt hat, bildet man sich ein, er trage einen geheimen Kummer oder irgend ein Mißgeschick. Schließlich gewöhnt man sich daran, ausgezankt zu werden. Wo könnte man auch, außer in der Liebe aus Leidenschaft, außer beim Hazardspiel oder im Besitze unumschränkter Macht, eine gleich stark sprudelnde, nie versiegende Quelle der Beschäftigung finden? Nach dem Tode des Streitsüchtigen sieht man, wie das Opfer, das ihn überlebt, untröstlich bleibt. Darin beruht das Bindemittel vieler bürgerlicher Ehen. Der Ausgescholtene hört den ganzen Tag von dem reden, was er am meisten liebt.

Es gibt auch eine falsche Art von streitsüchtiger Liebe. Ich entnehme dem Briefe einer ausgesucht geistreichen Dame die Stelle:

„Ein kleiner Zweifel, den man täglich beschwichtigen muß, gibt der Liebe aus Leidenschaft immer neue Nahrung … Da die immer rege Furcht niemals schwindet, können auch ihre Freuden nie langweilig werden.“

Bei mürrischen, schlecht erzogenen oder von Natur sehr heftigen Menschen kommen jene kleinen Zweifel,

Empfohlene Zitierweise:
Stendhal übersetzt von Arthur Schurig: Über die Liebe (De l’Amour). Leipzig 1903, Seite 125. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ueber_die_Liebe_125.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)