Seite:Ueber die Liebe 153.jpg

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nicht Vergnügen macht und ob es dem, der es wahrnimmt, nicht vielleicht auch welches bereit.

Was in Sprache und Benehmen in Rom für unnatürlich gilt, erscheint wohlanständig oder unauffällig in Florenz. Man spricht in Lyon dasselbe Französisch wie in Nantes. Aber der venezianische, neapolitanische, genueser und piemonteser Dialekt sind wie vollkommen untereinander verschiedene Sprachen, und doch werden sie von Leuten gesprochen, die übereingekommen sind, in Druckwerken nur die in Rom übliche Sprache anzuwenden. Nichts wäre sinnloser als ein Lustspiel, dessen Ort der Handlung Mailand ist und dessen Personen römisch sprechen. Die italienische Sprache, die sich viel mehr für den Gesang als zum Sprechen eignet, kann sich gegen die Klarheit des Französischen nur durch die Musik halten.

In Italien erhöht die Furcht vor dem Pascha und seinen Spionen den Wert des Nützlichen. Auf keinen Fall gibt es falsches Ehrgefühl. Es wird durch einen gewissen kleinlichen Haß auf die Gesellschaft, den sogenannten petegolismo ersetzt.

6. Der Partikularismus.

Jener Stolz, der uns dazu führt, die Achtung unserer Mitbürger zu erstreben und sich mit ihnen eins zu fühlen, ward um 1550 durch den eifersüchtigen Despotismus der kleinen italienischen Fürsten von allen edleren Bestrebungen abgedrängt und so zum Anlaß eines Zerrbilds von Patriotismus, einer Mischung von Raserei und Dummheit, die selbst die gescheitesten Köpfe ansteckt.

Dieser Partikularismus ist die große geistige Wunde Italiens, ein tödliches Fieber, dessen unheilvolle Folgen

Empfohlene Zitierweise:
Stendhal übersetzt von Arthur Schurig: Über die Liebe (De l’Amour). Leipzig 1903, Seite 153. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ueber_die_Liebe_153.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)