Seite:Ueber die Liebe 170.jpg

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Sicherheit und Ruhe gewährt. Trotzdem ist der Weg von diesem Zustande bis zum Glücke noch weit; der Mensch muß es in sich selbst finden, denn nur eine gewöhnliche Seele kann sich im Genusse der Sicherheit und Ruhe völlig glücklich fühlen. In Europa, besonders in Italien, ist man sich darüber nicht recht klar. Da wir an Regierungen gewöhnt sind, die uns Schlimmes antun, erscheint uns die Befreiung davon als das höchste Glück. Wir gleichen in dieser Hinsicht Kranken, die sich unter schrecklichen Leiden abquälen. Das Beispiel Amerikas zeigt den Gegensatz. Dort versieht die Regierung ihr Amt vorzüglich, ohne irgend jemandem zu schaden. Aber als ob das Geschick unsere ganze Philosophie Lügen strafen und irre machen oder vielmehr der Unkenntnis über die Grundlagen der Menschennatur beschuldigen wollte, sehen wir, so fern uns auch bei unseren unglücklichen europäischen Zuständen seit Jahrhunderten jede wirkliche Erfahrung ist, doch ein, daß es den Amerikanern trotz ihrer vorteilhaften Regierung innerlich an etwas fehlt. Man möchte sagen, daß die Quelle des Gefühls bei ihnen versiegt sei. Sie sind gerecht, sie sind vernünftig, aber keineswegs glücklich.

Volney erzählt, daß er einmal auf dem Lande im Hause eines biederen Amerikaners war, eines wohlhabenden und von bereits erwachsenen Kindern umgebenen Mannes, als ein junger Mensch eintrat. „Guten Tag, William,“ sagte der Familienvater, „setze dich.“ Der Reisende fragte, wer der junge Mann sei. „Mein Zweitältester.“ – „Woher kommt er?“ – „Aus Canton.“ – Die Rückkehr eines Sohnes vom andern Ende der Welt verursachte keine größere Erregung.


Empfohlene Zitierweise:
Stendhal übersetzt von Arthur Schurig: Über die Liebe (De l’Amour). Leipzig 1903, Seite 170. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ueber_die_Liebe_170.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)