Seite:Ueber die Liebe 176.jpg

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des Geschickes der Männer, die sich ihnen nähern. Eine dreijährige Verbannung nach Palästina, der Übergang von einer lebensfreudigen Kultur zum Fanatismus und den Mühsalen eines Kreuzzuges muß für jeden, der nicht gerade ein überspannter Christ war, ein äußerst harter Frondienst gewesen sein.

Was kann heute eine Frau ihrem Geliebten antun, wenn er sie feig verläßt? Darauf gibt es meiner Ansicht nach nur eine Antwort: eine Frau, die auf sich hält, darf keinen Liebhaber haben. Die Vorsicht rät also heutzutage den Frauen mit Recht viel mehr von der Liebe aus Leidenschaft ab. Aber rät ihnen nicht dafür eine andere Vorsicht, die ich nicht im geringsten billige, sich in der Liebe aus Sinnlichkeit zu entschädigen? Demnach hat die Tugend durch unsere Heuchelei und unsere Entsagung durchaus nichts gewonnen, denn die Natur wird niemals ungestraft unterdrückt, nur das irdische Glück und die edelmütigen Regungen haben eine unendliche Einbuße erlitten.

Ein Liebender, der nach zehnjährigen vertrauten Beziehungen seine arme Geliebte verläßt, weil er die Spuren ihrer zweiunddreißig Jahre bemerkt, hätte in der liebereichen Provence seine Ehre verloren. Er hätte keinen anderen Ausweg gehabt, als sich in die Einsamkeit eines Klosters zu vergraben. Schon das eigene Wohl gebot also einem, wenn auch nicht edelherzigen, so doch vorsichtigen Manne, nicht mehr Leidenschaft zu heucheln, als er empfand.

Alles das ahnen wir nur, da wir zu wenig Denkmäler haben, die uns Genaues überliefern. Ein Gesamturteil über jene Kultur kann man sich aber aus verschiedenen Einzelheiten zusammenstellen.


Empfohlene Zitierweise:
Stendhal übersetzt von Arthur Schurig: Über die Liebe (De l’Amour). Leipzig 1903, Seite 176. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ueber_die_Liebe_176.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)